Die Shakespeare-Morde
sprechen
konnte. Außer uns dreien hatte niemand von der Suche nach ›Cardenio‹
gewusst. Bis jetzt hatte ich nicht einmal Sir Henry eingeweiht. Ros wusste
Bescheid, und sie war tot. Maxine wusste, dass die Spur zu Athenaide führte,
und auch sie war tot.
Athenaide hatte mir gesagt,
dass Dr. Sanderson mich am Kapitol treffen wollte - vielleicht hatte sie
die Verabredung inszeniert und ihm die gleiche Botschaft von mir
ausgerichtet. Und als Sinclair kurz davor war, mich zu stoppen, hatte
Athenaide mir zur Flucht verholfen.
»Dr. Sanderson hatte
recht mit seiner Warnung. Nicht nur weil sie an Oxford glaubt. Wer weiß,
was sie sonst noch im Schilde führt, Kate. Niemand lässt sich
nur eines historischen Hobbys wegen ein solches System von Geheimgängen
einbauen. Vor allem nicht da draußen, eine Dreiviertelstunde von der
mexikanischen Grenze entfernt. Die Frau schmuggelt Drogen oder Menschen,
oder beides.«
Ich setzte mich. Wie konnte
ich nur so dumm gewesen sein.
Aber selbst wenn Athenaide
der logische Schluss war, eines sprach dagegen: die Hand, die mir in den
Schritt gefasst hatte. »Es war ein Mann, der mich angegriffen hat«,
sagte ich schaudernd. »Hier und in Harvard.«
»Ros hat mich
angeheuert«, stellte Ben fest.
In anderen Worten, Frauen
heuerten Männer an. Plötzlich musste ich an Matthews Worte
denken. Ihr Protégé ist nicht aufgetaucht. Wesley North.
Athenaides Mann fürs Grobe.
»Aber er hat den Brief
zurückgelassen.« Immer noch suchte ich nach Einwänden
gegen Bens Theorie. »Wenn er mich stoppen wollte - wenn er die Suche
stoppen wollte -, warum hat er den Brief nicht mitgenommen?«
»Vielleicht sind Sie
ihm dazwischengekommen.«
»Oder Sie.«
Er zuckte die Achseln.
»Oder aber er wollte, dass Sie ihn finden.«
Ich schauderte. »Aber
Sie haben gerade gesagt, er wollte mich aufhalten. Er hat versucht, mich
umzubringen.«
»Aber er hat es nicht
getan.«
»Sie meinen, er hat es
absichtlich nicht getan?«
»Wenn man jemanden
ausschalten will, gibt es einfachere und sicherere Wege. Ein schallgedämpfter
Kopfschuss oder Genickbruch mit einer kräftigen Handbewegung. Hätte
er Sie töten wollen, wären Sie tot gewesen, bevor ich dazukam.
Aber Sie leben. Und ich frage mich, warum? Warum inszeniert der Täter
die Morde so theatralisch?
Und warum hat er Sie
entkommen lassen - nicht ein Mal, sondern inzwischen schon zwei Mal?«
Er zuckte die Achseln. »Eine plausible Möglichkeit ist, dass
die Morde deswegen so theatralisch sind, weil das Ganze ein Theater ist -
mit dem Ziel, das Publikum zu beeinflussen. Ein ganz bestimmtes Publikum.«
»Mich?«
»Vielleicht will
Athenaide, dass Sie genau das tun, was Sie tun: der Fährte folgen,
angetrieben von Rachegefühlen. Möglich, dass sie Ihnen folgt,
anstatt Ihnen voraus zu sein. Vielleicht macht sie den Weg für Sie
frei, Kate, und drängt Sie weiter.«
Ich runzelte die Stirn.
»Warum? Sie haben selbst gesagt, Athenaide will nicht, dass
Granvilles Entdeckung gefunden wird.«
»Besser gesagt, sie
will nicht, dass Granvilles Entdeckung an die Öffentlichkeit kommt.
Nie. Doch die Garantie dafür hat sie nur, wenn sie sie zerstört.
Deswegen sollen Sie den Schatz für sie finden. Vielleicht sind Sie am
Leben, weil Athenaide Sie noch braucht.«
»Um ›Cardenio‹
zu finden. Und dann?«
»Dann lässt sie
Sie und das Stück verschwinden. Und alles, was Granville sonst noch
gefunden hat.«
Ich ging wieder in der Küche
auf und ab. »Das kann ich nicht glauben. Ich kann einfach nicht.«
Ben griff in seine
Jackentasche und stellte einen Gegenstand auf den Tisch. Es war ein
kleiner Silberrahmen. Ich kam zögernd näher, als hätte ich
Angst, dass er beißen könnte.
In dem Rahmen steckte ein
Schwarzweißfoto, dessen starke Kontraste und elegante Linien mich an
eine alte Modefotografie erinnerten. Eine Frau mit Wespentaille in der
merkwürdig konkaven Haltung der Models aus den Fünfzigerjahren -
der Zeit von ›Ein Herz und eine Krone‹ und ›Das
Fenster zum Hof‹. Es war Athenaide. Jünger, schöner,
bezaubernd. Neben ihr stand ein kleines Mädchen, das bewundernd zu
ihr aufsah. Sein Gesicht hatte noch die weichen Züge eines Kindes,
doch es war unverkennbar Rosalind Howard.
Am meisten überraschte
mich Athenaides Hut. Ein breitkrempiger weißer Damenhut mit
Pfingstrosen, die so tiefschwarz waren, wie auf einem
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