Die Shakespeare-Morde
hat. Wir müssen es finden.«
Sein Gesicht war nah. Er
nickte ernst, dann stand er auf und setzte sich neben mich. »Also
gut. Was wissen wir?« Er überflog den Brief.
»Ophelia und Jem
Granville waren auf der Suche nach ›Cardenio‹; Jem hat ihn
gefunden. Vielleicht hat er auch Beweise gefunden, dass Shakespeare nicht
Shakespeare war. Jem stirbt; die Beweise sind futsch, Ophelia verstummt.
Später bringt sie alles zurück, aber wir wissen nicht, was sie
überhaupt hatte und woher. Was sie nicht zurückgeben konnte, hat
sie in ihrem Garten vergraben. Wahrscheinlich in Henley-in-Arden.«
»Wo sie Delias Wahnsinn
miterlebt haben musste - wobei sie, wenn sie das Jahr 1932 erlebte, noch
ein Kind gewesen sein musste, als Delia in Henley war, in den späten
1850er Jahren. Gut fünfundsiebzig Jahre zuvor.«
»Wann hat sie für
Granville die Bacon-Papiere durchgesehen, 1881? Vielleicht hat sie etwas
mitgenommen, das sie später zurückgeben wollte - stellte dann
aber fest, dass die Sammlung plötzlich besser bewacht war? Vielleicht
sind die versperrten Türen die Pforten der Folger-Bibliothek?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Papiere in eine Sammlung hineinzuschmuggeln ist nicht schwer. Man
legt sie einfach zurück. Das Schwierige ist, sie herauszunehmen -
zumindest finden es die meisten Leute schwierig.« Ben grinste reumütig;
doch sein Blick blieb nachdenklich. »Abgesehen davon«, fuhr
ich fort, »hat die Folger-Bibliothek Delia Bacons Papiere - den Löwenanteil
- erst in den 1960ern angeschafft. Es kann natürlich sein, dass
Ophelia die Familie ein zweites Mal bat, die Papiere zu sehen, um etwas
zurückzulegen, und dort hat man ihr den Zugang verweigert.«
»Und da hat sie den
Spaten ausgepackt.«
Ich musste ungewollt lächeln.
»Und wir müssen in ganz Henley die Dahlien umgraben.«
»Es sei denn, wir
nehmen einen der anderen Wege zur Wahrheit.«
Unser jakobäisches
Magnum opus, c… 1623, hatte Ophelia geschrieben. Ich nahm die
Karteikarte aus dem Chambers-Band, die bei der Brosche in Ros’
Schachtel gelegen hatte. Genau wie ich gedacht hatte -beim Lesen hatte Ros
die Lücke durch ›circa‹ ersetzt. Ich hielt Ophelias
Brief gegen das Licht. Das i nach dem ersten c war kaum zu sehen, und der
nächste Buchstabe sah aus wie ein r. Ros’ Einfügung war
also editorisch sinnvoll. Andererseits war Ros strikt dagegen, ihre
Forschung durch Wunschdenken beeinflussen zu lassen. Oder ihre
Beziehungen. Wenigstens wussten wir, wo sie den nervtötenden Ausdruck
herhatte. Aber warum »unser«? War es möglich, dass
Ophelia eine First Folio besaß? Eher unwahrscheinlich. Oder stand
sie in Beziehung zu irgendeiner Institution, die eine besaß?
Mit der Formulierung, dass
Shakespeare den Weg zur Wahrheit wies, konnte ich noch weniger anfangen.
Shakespeare ließ sich in alle Richtungen deuten, wie
Anti-Stratfordianer und Avantgarde-Regisseure stets aufs Neue zeigten.
»Tee«, sagte Ben,
als hätte er damit die Antwort auf alle Übel der Welt. Er ging
zum Herd und setzte den Kessel auf. »Lassen Sie uns logisch denken.«
Er begann in den Schränken zu stöbern, bis er zwei Becher und
ein Fach mit zwanzig Teesorten gefunden hatte. »Ophelia sagt, dass
viele Wege zur Wahrheit führen, und dann erwähnt sie das jakobäische
Magnum opus. Der erste Weg ist also in anderen Worten: die First Folio.
Shakespeares Gesamtausgabe.«
Der Kessel pfiff, und er goss
den Tee auf. »Im nächsten Satz erklärt sie uns -
beziehungsweise Mrs Folger -, dass Shakespeare einen ›anderen‹
weist. Einen anderen was? Vermutlich einen anderen Weg. Aber wenn die
First Folio einen Weg weist, warum sollte im nächsten Satz
Shakespeare, also seine sämtlichen Werke, einen anderen weisen?«
Er reichte mir eine Tasse und beantwortete sich die Frage selbst. »Damit
wäre zweimal von derselben Sache die Rede. Es sei denn, mit
Shakespeare ist nicht sein Werk gemeint.«
»Nicht sein Werk,
sondern der Mann?«
Er nickte und trank einen
Schluck. »Wenn wir das ganze buchstäblich verstehen: Wo zeigt
Shakespeare hin?«
Der Dampf aus dem Becher hüllte
mein Gesicht in einen warmen Schleier, und ich versuchte alle Bilder von
Shakespeare heraufzubeschwören, an die ich mich erinnern konnte. Auf
dem Stich in der First Folio fehlten die Hände. Das Chandos-Porträt
- das Porträt der Londoner National Portrait Gallery mit der Nummer
NPG
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