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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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hat. Wir müssen es finden.«
    Sein Gesicht war nah. Er
     nickte ernst, dann stand er auf und setzte sich neben mich. »Also
     gut. Was wissen wir?« Er überflog den Brief.
    »Ophelia und Jem
     Granville waren auf der Suche nach ›Cardenio‹; Jem hat ihn
     gefunden. Vielleicht hat er auch Beweise gefunden, dass Shakespeare nicht
     Shakespeare war. Jem stirbt; die Beweise sind futsch, Ophelia verstummt.
     Später bringt sie alles zurück, aber wir wissen nicht, was sie
     überhaupt hatte und woher. Was sie nicht zurückgeben konnte, hat
     sie in ihrem Garten vergraben. Wahrscheinlich in Henley-in-Arden.«
    »Wo sie Delias Wahnsinn
     miterlebt haben musste - wobei sie, wenn sie das Jahr 1932 erlebte, noch
     ein Kind gewesen sein musste, als Delia in Henley war, in den späten
     1850er Jahren. Gut fünfundsiebzig Jahre zuvor.«
    »Wann hat sie für
     Granville die Bacon-Papiere durchgesehen, 1881? Vielleicht hat sie etwas
     mitgenommen, das sie später zurückgeben wollte - stellte dann
     aber fest, dass die Sammlung plötzlich besser bewacht war? Vielleicht
     sind die versperrten Türen die Pforten der Folger-Bibliothek?«
    Ich schüttelte den Kopf.
     »Papiere in eine Sammlung hineinzuschmuggeln ist nicht schwer. Man
     legt sie einfach zurück. Das Schwierige ist, sie herauszunehmen -
     zumindest finden es die meisten Leute schwierig.« Ben grinste reumütig;
     doch sein Blick blieb nachdenklich. »Abgesehen davon«, fuhr
     ich fort, »hat die Folger-Bibliothek Delia Bacons Papiere - den Löwenanteil
     - erst in den 1960ern angeschafft. Es kann natürlich sein, dass
     Ophelia die Familie ein zweites Mal bat, die Papiere zu sehen, um etwas
     zurückzulegen, und dort hat man ihr den Zugang verweigert.«
    »Und da hat sie den
     Spaten ausgepackt.«
    Ich musste ungewollt lächeln.
     »Und wir müssen in ganz Henley die Dahlien umgraben.«
    »Es sei denn, wir
     nehmen einen der anderen Wege zur Wahrheit.«
    Unser jakobäisches
     Magnum opus, c… 1623, hatte Ophelia geschrieben. Ich nahm die
     Karteikarte aus dem Chambers-Band, die bei der Brosche in Ros’
     Schachtel gelegen hatte. Genau wie ich gedacht hatte -beim Lesen hatte Ros
     die Lücke durch ›circa‹ ersetzt. Ich hielt Ophelias
     Brief gegen das Licht. Das i nach dem ersten c war kaum zu sehen, und der
     nächste Buchstabe sah aus wie ein r. Ros’ Einfügung war
     also editorisch sinnvoll. Andererseits war Ros strikt dagegen, ihre
     Forschung durch Wunschdenken beeinflussen zu lassen. Oder ihre
     Beziehungen. Wenigstens wussten wir, wo sie den nervtötenden Ausdruck
     herhatte. Aber warum »unser«? War es möglich, dass
     Ophelia eine First Folio besaß? Eher unwahrscheinlich. Oder stand
     sie in Beziehung zu irgendeiner Institution, die eine besaß?
    Mit der Formulierung, dass
     Shakespeare den Weg zur Wahrheit wies, konnte ich noch weniger anfangen.
     Shakespeare ließ sich in alle Richtungen deuten, wie
     Anti-Stratfordianer und Avantgarde-Regisseure stets aufs Neue zeigten.
    »Tee«, sagte Ben,
     als hätte er damit die Antwort auf alle Übel der Welt. Er ging
     zum Herd und setzte den Kessel auf. »Lassen Sie uns logisch denken.«
     Er begann in den Schränken zu stöbern, bis er zwei Becher und
     ein Fach mit zwanzig Teesorten gefunden hatte. »Ophelia sagt, dass
     viele Wege zur Wahrheit führen, und dann erwähnt sie das jakobäische
     Magnum opus. Der erste Weg ist also in anderen Worten: die First Folio.
     Shakespeares Gesamtausgabe.«
    Der Kessel pfiff, und er goss
     den Tee auf. »Im nächsten Satz erklärt sie uns -
     beziehungsweise Mrs Folger -, dass Shakespeare einen ›anderen‹
     weist. Einen anderen was? Vermutlich einen anderen Weg. Aber wenn die
     First Folio einen Weg weist, warum sollte im nächsten Satz
     Shakespeare, also seine sämtlichen Werke, einen anderen weisen?«
     Er reichte mir eine Tasse und beantwortete sich die Frage selbst. »Damit
     wäre zweimal von derselben Sache die Rede. Es sei denn, mit
     Shakespeare ist nicht sein Werk gemeint.«
    »Nicht sein Werk,
     sondern der Mann?«
    Er nickte und trank einen
     Schluck. »Wenn wir das ganze buchstäblich verstehen: Wo zeigt
     Shakespeare hin?« 
    Der Dampf aus dem Becher hüllte
     mein Gesicht in einen warmen Schleier, und ich versuchte alle Bilder von
     Shakespeare heraufzubeschwören, an die ich mich erinnern konnte. Auf
     dem Stich in der First Folio fehlten die Hände. Das Chandos-Porträt
     - das Porträt der Londoner National Portrait Gallery mit der Nummer
     NPG

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