Die Shakespeare-Morde
herunter und klingelte. »Sir Henry Lee«, verkündete
er majestätisch. »Um das Haus zu besichtigen.«
Was dachte er sich? Es war
fast acht Uhr abends.
Die Gegensprechanlage blieb
stumm.
Sir Henry wollte gerade zum
zweiten Mal klingeln, als das Tor zum Leben erwachte und sich
widerstrebend öffnete. Langsam, mit knirschenden Reifen, rollte der
Bentley die Kiesauffahrt hinauf, die um eine geometrische Parkanlage
herumführte. Die Sicht auf das Schloss wurde von Spalierbäumen
verdeckt, nur die Fontäne eines großen Springbrunnens in der
Mitte der Anlage war zu sehen. Als wir die andere Seite des kleinen Parks
erreichten, stand die große Eingangstür offen. Heraus trat eine
kleine Frau mit einem nervösen Lächeln auf dem Gesicht.
»Willkommen in Wilton
House, dem Sitz des Grafen von Pembroke. Welche Ehre, Sie hier begrüßen
zu dürfen, Sir Henry.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.
»Mrs Quigley. Marjorie Quigley. Ich leite die Führungen. Ich
hatte ja keine Ahnung, dass Sie für heute Abend auf der Liste stehen.
Dabei hätte ich es mir denken können, nicht wahr? Shakespeares
Musik und so weiter. Ich fürchte nur, Sie sind ein wenig zu früh
dran«, sagte sie, während wir aus dem Wagen stiegen. »Die
Führung durch das Haus soll eigentlich nach dem Konzert stattfinden -
das just in diesem Moment beginnt.«
»Und ich hatte mich so
auf beides gefreut«, sagte Sir Henry seufzend. »Leider können
meine beiden jungen Freunde keinen Augenblick länger hierbleiben als
bis zum Schlusstakt.«
»Wie schade!«,
rief Mrs Quigley und wandte sich an uns. »Das Haus ist so wunderschön
bei Kerzenlicht.«
»Vielleicht …«
Sir Henry räusperte sich diskret. »Wäre es eine fürchterliche
Zumutung für Sie, wenn wir uns jetzt gleich ein bisschen umsehen dürften?«
»Aber dann versäumen
Sie das Konzert«, antwortete Mrs Quigley entsetzt. »Das
Bournemouth Symphony Orchestra lädt zum musikalischen Abend mit
Shakespeare‹ ein.«
»Ich würde eher
auf das Konzert verzichten als auf die Besichtigung«, entgegnete Sir
Henry.
»Natürlich«,
sagte Mrs Quigley. »Natürlich. Nun, dann kommen Sie herein.«
Bevor sie ihre Meinung ändern
konnte, hatten wir uns durch die Tür geschoben.
Im blassen blauen Gegenlicht
der Dämmerung, das durch zwei gotische Spitzbogenfenster hereinfiel,
stand die Shakespeare-Statue in der Mitte eines hallenden Foyers. Genau
wie in Westminster Abbey stützte er lässig den Ellbogen auf
einen Stapel Bücher. Doch hier musste er sich nicht unter einen
Giebel ducken. Er stand frei in der Halle und wirkte dadurch größer
und entspannter zugleich. Der Mantel, der über seiner Schulter hing,
schien im unsichtbaren Wind zu flattern, während der Dichter in die
Ferne blickte, als würde er über ein paar neue Verse nachdenken.
Nichts Großes, kein ganzes Stück, aber womöglich ein
Sonett oder ein Liedchen. Etwas, das sich reimte.
»Ist er nicht schön?«,
sagte Mrs Quigley stolz. »Die Kopie wurde bereits 1743 angefertigt,
nach der Statue in Westminster Abbey.«
Doch es war keine exakte
Kopie. Wie der Küster angekündigt hatte, stand auf der
Schriftrolle ein anderes Zitat:
LEBEN ist nur ein wandelnd
SCHATTENBILD
Ein armer SCHAUSPIELER
Der spreizt & knirscht
sein Stündchen
Auf der BÜHNE
Und dann nicht mehr
vernommen wird!
Shaks. Macb.
»Meine Nichte sagt, in
Schauspielerkreisen hält man ›Macbeth‹ für ein
unglückseliges Stück«, sagte Mrs Quigley. »Aber den
Pembrokes hat es kein Unglück gebracht, da bin ich mir sicher. Denn
das Zitat gehört schon seit Shakespeares Zeiten zum Gefüge des
Hauses. Er ist sogar selbst hier gewesen, wussten Sie das?«
Meine Nackenhaare sträubten
sich.
»Aber die Statue wurde
mehr als hundert Jahre nach seinem Tod erschaffen«, sagte Sir Henry
scharf.
»Ja, gewiss. Doch bevor
die Statue aufgestellt wurde, stand die Inschrift über dem alten
Hauseingang.«
Sir Henry drehte sich um und
warf einen Blick zu der Tür, durch die wir gekommen waren.
»Nicht hier«,
sagte Mrs Quigley mit sichtlichem Vergnügen. »Im neunzehnten
Jahrhundert wurde der ganze Eingangsbereich grundlegend verändert.«
Sie ging an der Statue vorbei auf einen Kreuzgang zu, von dem sie in den
Hof hinunter zeigte. Wie die Widener-Bibliothek war Wilton House um einen
Innenhof angelegt. Wir hatten das Schloss im Erdgeschoss betreten,
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