Die Shakespeare-Morde
durchdringenden Eröffnungsklänge
der Filmmusik von Kenneth Branaghs ›Heinrich V.‹.
»Habt ihr etwas
gefunden?«, fragte Sir Henry heiser und nahm mir das Taschentuch ab,
um sich über das Gesicht zu wischen.
»Briefe …«
»Gib sie mir«,
sagte Ben, »und schließ das Geheimfach.«
Ich zögerte. »Wir
können sie doch nicht einfach …«
»Glaubst du, die Briefe
sind sicherer, wenn wir sie hierlassen?«
»Ich kann sie nicht
stehlen.«
Er nahm mir die Blätter
aus der Hand. »Schön«, sagte er trocken. »Dann tue
ich es. Und jetzt mach das verdammte Fach zu.«
Ich sah Sir Henry an. »Er
hat recht«, sagte er mit rauer Stimme. Also schob ich die Rosette an
ihren Platz zurück, und mit einem Klicken schloss sich das bemalte
Paneel. Keine Fuge verriet, dass sich dahinter eine Öffnung verbarg.
Eine hohe Tür rechts führte
in den Kreuzgang zurück. Ben drückte sie geräuschlos auf.
In dem Licht, das vom Konzert aufs Schloss fiel, glitzerte die
Fensterreihe zum Innenhof wie Eis, doch der Gang selbst lag tief im
Schatten. Das ganze Schloss lag im Dunkeln, selbst die Eingangshalle auf
der anderen Seite des Hofs. Wo war Mrs Quigley?
»Bleibt in Deckung«,
flüsterte Ben so leise, dass ich ihn kaum verstand. Dicht an der
inneren Wand hasteten wir lautlos durch den Korridor. Ben half Sir Henry.
Als wir uns der Eingangshalle
näherten, klopfte es an die Tür und wir erstarrten. Bei unserer
Ankunft war die Tür offen gewesen; ich konnte mich nicht erinnern, dass
Mrs Quigley abgeschlossen hätte. Im schwachen Licht, das durch die
Fenster in die Halle sickerte, sah Shakespeare aus, als würde er sich
vor Schmerzen krümmen.
Niemand kam, um zu öffnen.
Ben knipste die Taschenlampe an und leuchtete durch die Halle. Und da sah
ich, warum Shakespeare so bucklig wirkte. Mrs Quigley kniete vor der
Statue. Jemand hatte einen Schal um Shakespeares Arm gewickelt, der straff
um ihren Hals gespannt war. Ihr Kopf hing seltsam schief, die Lippen waren
weiß, und ihre Augen traten hervor.
Ben drückte mir die
Taschenlampe in die Hand und lief zu Mrs Quigley, um sie aus der Schlinge
zu befreien. Ich hielt das Licht auf sie gerichtet und kam langsam näher.
Wieder polterte es gegen die
Tür, lauter und beharrlicher.
Mit einem Arm hielt Ben die
Frau fest, mit der freien Hand versuchte er das Tuch zu lösen, doch
es gelang ihm nicht. Ich reichte Sir Henry die Lampe und half Ben, den
Knoten zu lösen, dann glitt sie in Bens Arme. Kleine weiße
Federn schwebten durch die Luft; jemand hatte ihr eine Kette mit einem
kleinen Spiegel um den Hals gehängt.
»Und meine arme Seele
ist gehangen«, sagte Sir Henry leise. Das Licht zitterte auf der
grotesken Pieta. Wir sahen ›König Lear‹ vor uns -die
Szene, als der alte König Cordelia entdeckt und mithilfe einer Feder
und eines Spiegels verzweifelt nach ihrem Atem sucht. Doch sie atmete
nicht mehr: Nein, nein, kein Leben mehr.
Wieder klopfte es, doch dann
wurde es abrupt still, und wir hörten, wie ein Schlüssel ins
Schloss gesteckt wurde.
Ben legte Mrs Quigley auf den
Boden und sprang auf die Füße. »Los«, zischte er,
dann warf er sich Sir Henrys Arm über die Schulter, und wir liefen
zurück in den Kreuzgang. Im gleichen Moment ging die Tür hinter
uns auf.
Ich erinnerte mich kaum an
die Treppe, an der wir mit Mrs Quigley vorbeigekommen waren, doch Ben
hatte anscheinend besser aufgepasst. Als er uns die Stufen hinabführte,
ging hinter uns in der Eingangshalle das Licht an und eine Frau begann zu
kreischen.
Während über uns
Schritte durch den Kreuzgang polterten, rannten wir nach unten. Aus dem
Schrei wurde ein Heulen, dann brach es plötzlich ab.
Im Erdgeschoss erreichten wir
die Gewölbehalle, die früher der Hauptzugang zum Hof gewesen
war. Eine Tür mit Butzenscheiben ging auf den Hof, eine zweite, größere
führte hinaus in den dunklen Park. Von dort zog sich das blasse Band
eines Kieswegs nach Osten -kaum mehr als der Schatten der Straße,
die einst Shakespeare und seine Truppe hierhergebracht hatte.
Ben gab uns ein Zeichen zu
warten, dann schlich er sich an die Tür, die ins Freie führte.
Im nächsten Moment duckte er sich, und ich erstarrte. Männer in
Uniform stürzten vorbei, auf dem Weg zur anderen Seite des Gebäudes.
Zwei blieben an der Tür stehen. Ben zog seine Waffe. Ich hielt die
Luft an.
Die Tür war
abgeschlossen.
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