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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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durchdringenden Eröffnungsklänge
     der Filmmusik von Kenneth Branaghs ›Heinrich V.‹.
    »Habt ihr etwas
     gefunden?«, fragte Sir Henry heiser und nahm mir das Taschentuch ab,
     um sich über das Gesicht zu wischen.
    »Briefe …«
    »Gib sie mir«,
     sagte Ben, »und schließ das Geheimfach.«
    Ich zögerte. »Wir
     können sie doch nicht einfach …«
    »Glaubst du, die Briefe
     sind sicherer, wenn wir sie hierlassen?«
    »Ich kann sie nicht
     stehlen.«
    Er nahm mir die Blätter
     aus der Hand. »Schön«, sagte er trocken. »Dann tue
     ich es. Und jetzt mach das verdammte Fach zu.«
    Ich sah Sir Henry an. »Er
     hat recht«, sagte er mit rauer Stimme. Also schob ich die Rosette an
     ihren Platz zurück, und mit einem Klicken schloss sich das bemalte
     Paneel. Keine Fuge verriet, dass sich dahinter eine Öffnung verbarg.
    Eine hohe Tür rechts führte
     in den Kreuzgang zurück. Ben drückte sie geräuschlos auf.
     In dem Licht, das vom Konzert aufs Schloss fiel, glitzerte die
     Fensterreihe zum Innenhof wie Eis, doch der Gang selbst lag tief im
     Schatten. Das ganze Schloss lag im Dunkeln, selbst die Eingangshalle auf
     der anderen Seite des Hofs. Wo war Mrs Quigley?
    »Bleibt in Deckung«,
     flüsterte Ben so leise, dass ich ihn kaum verstand. Dicht an der
     inneren Wand hasteten wir lautlos durch den Korridor. Ben half Sir Henry.
    Als wir uns der Eingangshalle
     näherten, klopfte es an die Tür und wir erstarrten. Bei unserer
     Ankunft war die Tür offen gewesen; ich konnte mich nicht erinnern, dass
     Mrs Quigley abgeschlossen hätte. Im schwachen Licht, das durch die
     Fenster in die Halle sickerte, sah Shakespeare aus, als würde er sich
     vor Schmerzen krümmen.
    Niemand kam, um zu öffnen.
     Ben knipste die Taschenlampe an und leuchtete durch die Halle. Und da sah
     ich, warum Shakespeare so bucklig wirkte. Mrs Quigley kniete vor der
     Statue. Jemand hatte einen Schal um Shakespeares Arm gewickelt, der straff
     um ihren Hals gespannt war. Ihr Kopf hing seltsam schief, die Lippen waren
     weiß, und ihre Augen traten hervor.
    Ben drückte mir die
     Taschenlampe in die Hand und lief zu Mrs Quigley, um sie aus der Schlinge
     zu befreien. Ich hielt das Licht auf sie gerichtet und kam langsam näher.
    Wieder polterte es gegen die
     Tür, lauter und beharrlicher.
    Mit einem Arm hielt Ben die
     Frau fest, mit der freien Hand versuchte er das Tuch zu lösen, doch
     es gelang ihm nicht. Ich reichte Sir Henry die Lampe und half Ben, den
     Knoten zu lösen, dann glitt sie in Bens Arme. Kleine weiße
     Federn schwebten durch die Luft; jemand hatte ihr eine Kette mit einem
     kleinen Spiegel um den Hals gehängt.
    »Und meine arme Seele
     ist gehangen«, sagte Sir Henry leise. Das Licht zitterte auf der
     grotesken Pieta. Wir sahen ›König Lear‹ vor uns -die
     Szene, als der alte König Cordelia entdeckt und mithilfe einer Feder
     und eines Spiegels verzweifelt nach ihrem Atem sucht. Doch sie atmete
     nicht mehr: Nein, nein, kein Leben mehr.
    Wieder klopfte es, doch dann
     wurde es abrupt still, und wir hörten, wie ein Schlüssel ins
     Schloss gesteckt wurde.
    Ben legte Mrs Quigley auf den
     Boden und sprang auf die Füße. »Los«, zischte er,
     dann warf er sich Sir Henrys Arm über die Schulter, und wir liefen
     zurück in den Kreuzgang. Im gleichen Moment ging die Tür hinter
     uns auf. 
    Ich erinnerte mich kaum an
     die Treppe, an der wir mit Mrs Quigley vorbeigekommen waren, doch Ben
     hatte anscheinend besser aufgepasst. Als er uns die Stufen hinabführte,
     ging hinter uns in der Eingangshalle das Licht an und eine Frau begann zu
     kreischen.
    Während über uns
     Schritte durch den Kreuzgang polterten, rannten wir nach unten. Aus dem
     Schrei wurde ein Heulen, dann brach es plötzlich ab.
    Im Erdgeschoss erreichten wir
     die Gewölbehalle, die früher der Hauptzugang zum Hof gewesen
     war. Eine Tür mit Butzenscheiben ging auf den Hof, eine zweite, größere
     führte hinaus in den dunklen Park. Von dort zog sich das blasse Band
     eines Kieswegs nach Osten -kaum mehr als der Schatten der Straße,
     die einst Shakespeare und seine Truppe hierhergebracht hatte.
    Ben gab uns ein Zeichen zu
     warten, dann schlich er sich an die Tür, die ins Freie führte.
     Im nächsten Moment duckte er sich, und ich erstarrte. Männer in
     Uniform stürzten vorbei, auf dem Weg zur anderen Seite des Gebäudes.
     Zwei blieben an der Tür stehen. Ben zog seine Waffe. Ich hielt die
     Luft an.
    Die Tür war
     abgeschlossen.

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