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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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Karikaturen verzerrt. Ein greller Blitz zerriss die Nacht, und der Schatten
     des Baumes war tiefer als der auf der anderen Seite.
    Wieder berührte ich den
     Schatten mit dem Finger, und wieder entdeckte ich nichts. Ich drückte.
     Nichts geschah. Ich drückte fester.
    Mit einem leisen Klicken
     schob sich eine goldene Rosette über dem Gemälde aus der Wand
     wie ein Knauf. Ich griff zu und zog. Das ganze Gemälde ließ
     sich nach vorne klappen und legte einen dunklen Hohlraum zwischen dem
     Mauerwerk und den Paneelen frei.       
    In dem kleinen Fach lag unter
     einer jahrhundertealten Staubschicht ein mit einer brüchigen,
     verblassten Schleife verschnürtes Päckchen.

 
    32
    Ich nahm das Päckchen
     heraus und wickelte es auf. Es war in Leder eingeschlagen. Darin lagen
     zwei zusammengefaltete Blätter Papier. Vorsichtig glättete ich
     das erste; es war überraschend schwer. Ein Brief, datiert auf
     November 1603 und auf der Außenseite adressiert an »Meinen
     Sohn, den Ehrw. Sir Philip Herbert, am Hofe Ihrer Majestät in
     Salisbury«.
     
    Geliebter Sohn,
    ich bete, daß Ihr
     den König überzeuget, zu vns nach Wilton House zu kommen, und
     dies mit aller gebotenen Hast. Wir haben den Mann Shakespeare bey vns, und
     sein Versprechen einer Comödie mit dem Titel ›Wie es euch gefällt‹.
     Da dem König die Comödie wolgefallen könnte, würde sie
     als glückliche Stunde dienen, vm für Sr W Raleigh’s zu
     bitten, wie es mein größter Wuntsch ist. Ich bete zu GOTT, daß
     Ihr bei bester Gesundtheit seyd vnd ER vns ein baldiges glückliches
     Widersehen beschere.
    EURE EUCH LIEBENDE MUTTER
    M. Pembroke
    Ihr möget mir die Kürze
     dieses Briefleins verzeihn, da die Verfasserin in Eile ist.
     
    Wir haben den Mann
     Shakespeare bey vns. »Der verschollene Wilton-Brief«, sagte
     ich leise. Verfasst von Mary Sidney Herbert Gräfin von Pembroke,
     adressiert an ihren Sohn Philip, als während der ersten Jahre von König
     Jakobs I. Regierungszeit die Pest den Hof wie die Schauspieler von London fernhielt.
     Seit Langem wurde von der Existenz dieses Briefes gemunkelt, doch kein
     Experte hatte ihn je zu Gesicht bekommen. Seine Wirkung dagegen war
     wohlbekannt. Der König war tatsächlich nach Wilton House
     gekommen, und die Schauspieler hatten ›Wie es euch gefällt‹
     und später ›Was ihr wollt‹ aufgeführt. Nur der
     arme Sir Walter blieb im Gefängnis.
    Draußen schwoll
     Prokofjews Musik in einem großen Crescendo zum Schmerzensschrei an.
     Kopfschüttelnd nahm ich mir die zweite Seite vor. Ein weiterer Brief,
     doch dieser war undatiert und in einer anderen Handschrift verfasst. Ich
     las vor:
     
    Dem süßesten
     Schwane, der je über den Avon glitt.
     
    Ben Jonson hatte den Ausdruck
     »süßer Schwan vom Avon« in der First Folio Edition
     geprägt. Ich musste einen Brief an Shakespeare in der Hand halten.
    Die Musik erstarb.
    »Lies weiter«,
     sagte Ben.
     
    Nachdem mich eine Flut von
     Zweyfel vnd Unruh trieb, wurde ich schließlich an Land gespült
     -
     
    Ein Poltern im Nebenzimmer störte
     die Stille. Wir erstarrten. Dann hörten wir Schritte, die über
     den Marmorboden davonliefen.
    »Komm mit«, flüsterte
     Ben und schlich hastig zur Tür. Er zog den Revolver und gab mir ein
     Zeichen, mich hinter ihm an die Wand zu stellen. Einen Moment lang
     lauschte er. Draußen vor dem Schloss erhob sich Applaus. Ben griff
     nach der Klinke, öffnete einen Flügel der Tür und sicherte
     den Saal dahinter mit der Waffe.
    »Sir Henry?«
    Keine Antwort. Ben ließ
     den Kegel der Taschenlampe durch den Raum gleiten.
    Sir Henry lag in der Mitte
     des Saals. In seinem Gesicht glänzte Blut. Als der Lichtkegel ihn
     traf, stöhnte er. Er lebte.
    Im Bruchteil einer Sekunde
     waren wir bei ihm. Sir Henry rappelte sich bereits auf die Füße.
     Ich half ihm auf einen Stuhl, zog das hübsche Taschentuch aus seiner
     Brusttasche und tupfte den tiefen Schnitt auf seiner Wange ab.
    Ben schlich zur anderen Tür,
     doch es war niemand mehr da. Als er zurückkam, fragte er Sir Henry
     knapp: »Konnten Sie sehen, wer es war?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Wo ist Mrs Quigley?«
    Sir Henry hustete. »Ich
     habe sie zur Eingangshalle begleitet«, keuchte er. »Als ich
     zurückkam, wurde ich …«
    »Zurück in den
     Single Cube Room«, wies Ben an und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür.
     Während ich vorausging, faltete ich die Papiere. Ben half Sir Henry.
     Von draußen hörten wir die

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