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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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an«, erklärte Ben, »wenn er um elf seine Runde macht und
     nachsieht, dass die Lichter aus und die Türen verschlossen sind.«
     Als er meinen zweifelnden Blick sah, winkte er ungeduldig ab. »Ich
     kriege euch rein. Kümmert ihr euch darum, was wir tun, wenn wir drin
     sind.«
    Der Zimmerkellner kam mit
     einem reich gedeckten Tablett, und Sir Henry und Ben fielen über
     Roastbeef mit Yorkshire-Pudding und Erbsen her. Ich schüttelte den
     Kopf. Ich konnte nichts essen. Stattdessen ging ich zum Fenster, öffnete
     es und sah zu, wie Gruppen von Leuten aus warm erleuchteten Türen
     kamen und durch den Regen eilten. Der nächtliche Auszug aus den
     Restaurants in die Theater hatte begonnen.
    Gegen 1593 hatte Shakespeare
     eine plötzlich einsetzende schöpferische Blüte erlebt,
     nicht nur was die Masse, sondern auch was den Ton, die Themen und die
     Qualität seiner Werke anging. Sechs oder sieben Jahre lang sollte er
     zwei, manchmal drei Meisterwerke pro Jahr hervorbringen, bevor seine
     Produktivität wieder auf sein Normalmaß zurückging. Möglicherweise
     schrieb er innerhalb von nur eineinhalb Jahren ›Richard II.‹,
     ›Romeo und Julia‹, ›Ein Sommernachtstraum‹ und
     ›König Johann‹. Die meisten Schriftsteller hätten
     gemordet, um in sechs Jahrzehnten zu schaffen, was Shakespeare in jenen
     sechs Jahren vollbrachte.
    Ein solcher Lauf ließ
     sich einzig und allein durch das unergründliche Sprühen des
     Genies erklären. Aber was wäre, wenn fünf Köpfe statt
     einem dieses Sprühen genährt hatten? War es möglich, dass
     Shakespeares plötzliche Schaffenskraft mit dem Entstehen einer
     kleinen Akademie einherging, der fünffaltigen Schimäre?
    Am wahrscheinlichsten war es,
     dass William Stanley, der spätere Graf von Derby, Mr William
     Shakespeare aus Stratford »entdeckt« hatte. Waren sich der
     Sohn des Grafen aus dem Norden und der Sohn des Handschuhmachers aus
     Warwickshire im Theater in Stratford, Coventry oder Chester begegnet? Oder
     sogar in Knowsley Hall oder Lathom Park, den Schlössern der Derby?
     Das Theater war der Ort, an dem sich die Klassen mischten. Hatten W. S.
     und W. S. einander kennengelernt und sich auf Anhieb verstanden? Hatten
     sie sich gegenseitig abgeschätzt und für amüsant oder
     zumindest für nützlich befunden? Hatte Shakespeare Stratford
     verlassen, um mit der Schauspieltruppe des Grafen von Derby in London
     einzureiten?
    Das war verrückt. Ich
     schien mich wirklich in Delia Bacon zu verwandeln. Miss Bacon hatte
     geglaubt, Shakespeare sei Bacon; Ms Stanley begann zu glauben, Shakespeare
     sei Stanley. Delia wollte Shakespeares Grab öffnen; ich hatte vor,
     noch in dieser Nacht das Gleiche zu tun.
    Delia hatte Recht - Recht und
     nochmals Recht.
    Delia war wahnsinnig.
    Ich nahm mir den
     Chambers-Band vor und schüttelte alle Dokumente heraus, die zwischen
     den Seiten steckten. Die Briefe flatterten heraus wie tote Motten und
     landeten auf einem Haufen auf dem Teppich. Dann kniete ich mich hin und
     fing an, sie zu sortieren. Ben und Sir Henry saßen am Tisch und
     sahen mir verwundert zu.
    Ich hatte Beweise, zum
     Teufel. Ros’ Karteikarte. Jeremy Granvilles Brief an Professor
     Child. Ophelias Brief an Jem. Ihren viel späteren Brief an Emily
     Folger. Der Brief von Lady Pembroke an ihren Sohn -Wir haben den Mann
     Shakespeare bey vns. Wills Brief an den süßen Schwan. Die
     Widmung in Derbys Folio. Und schließlich - bei Weitem das schönste
     Beweisstück - die Miniatur des jungen Mannes vor flammendem
     Hintergrund, die sich in Ophelias Brosche verbarg.
    Was wussten wir? Was wussten
     wir wirklich?
    Shakespeare schreibt ein Stück,
     das auf der Geschichte des Cardenio aus Cervantes’ Roman ›Don
     Quixote‹ beruht - ein Stück, das außerdem eine hässliche
     Episode der Howard’schen Familiengeschichte widerspiegelt. Das Globe
     brennt ab, das Stück verschwindet.
    Jahre später schreibt
     »Will« - wahrscheinlich William Stanley Graf von Derby - einen
     Brief an den »süßesten Schwan, der je über den Avon
     glitt« - wahrscheinlich Mary Sidney Gräfin von Pembroke -, in
     dem er sagt, dass ihm die Idee einer Gesamtausgabe nicht schlecht gefällt,
     solange ›Cardenio‹ nicht mit hineinkommt - er selbst werde
     die Sache jemandem am Royal College of St. Alban in Valladolid erklären.
     Egal was Derby sonst nach Spanien sendet, er schickt jedenfalls später
     einem gewissen Pater William Shelton - dem Bruder des

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