Die Shakespeare-Morde
an«, erklärte Ben, »wenn er um elf seine Runde macht und
nachsieht, dass die Lichter aus und die Türen verschlossen sind.«
Als er meinen zweifelnden Blick sah, winkte er ungeduldig ab. »Ich
kriege euch rein. Kümmert ihr euch darum, was wir tun, wenn wir drin
sind.«
Der Zimmerkellner kam mit
einem reich gedeckten Tablett, und Sir Henry und Ben fielen über
Roastbeef mit Yorkshire-Pudding und Erbsen her. Ich schüttelte den
Kopf. Ich konnte nichts essen. Stattdessen ging ich zum Fenster, öffnete
es und sah zu, wie Gruppen von Leuten aus warm erleuchteten Türen
kamen und durch den Regen eilten. Der nächtliche Auszug aus den
Restaurants in die Theater hatte begonnen.
Gegen 1593 hatte Shakespeare
eine plötzlich einsetzende schöpferische Blüte erlebt,
nicht nur was die Masse, sondern auch was den Ton, die Themen und die
Qualität seiner Werke anging. Sechs oder sieben Jahre lang sollte er
zwei, manchmal drei Meisterwerke pro Jahr hervorbringen, bevor seine
Produktivität wieder auf sein Normalmaß zurückging. Möglicherweise
schrieb er innerhalb von nur eineinhalb Jahren ›Richard II.‹,
›Romeo und Julia‹, ›Ein Sommernachtstraum‹ und
›König Johann‹. Die meisten Schriftsteller hätten
gemordet, um in sechs Jahrzehnten zu schaffen, was Shakespeare in jenen
sechs Jahren vollbrachte.
Ein solcher Lauf ließ
sich einzig und allein durch das unergründliche Sprühen des
Genies erklären. Aber was wäre, wenn fünf Köpfe statt
einem dieses Sprühen genährt hatten? War es möglich, dass
Shakespeares plötzliche Schaffenskraft mit dem Entstehen einer
kleinen Akademie einherging, der fünffaltigen Schimäre?
Am wahrscheinlichsten war es,
dass William Stanley, der spätere Graf von Derby, Mr William
Shakespeare aus Stratford »entdeckt« hatte. Waren sich der
Sohn des Grafen aus dem Norden und der Sohn des Handschuhmachers aus
Warwickshire im Theater in Stratford, Coventry oder Chester begegnet? Oder
sogar in Knowsley Hall oder Lathom Park, den Schlössern der Derby?
Das Theater war der Ort, an dem sich die Klassen mischten. Hatten W. S.
und W. S. einander kennengelernt und sich auf Anhieb verstanden? Hatten
sie sich gegenseitig abgeschätzt und für amüsant oder
zumindest für nützlich befunden? Hatte Shakespeare Stratford
verlassen, um mit der Schauspieltruppe des Grafen von Derby in London
einzureiten?
Das war verrückt. Ich
schien mich wirklich in Delia Bacon zu verwandeln. Miss Bacon hatte
geglaubt, Shakespeare sei Bacon; Ms Stanley begann zu glauben, Shakespeare
sei Stanley. Delia wollte Shakespeares Grab öffnen; ich hatte vor,
noch in dieser Nacht das Gleiche zu tun.
Delia hatte Recht - Recht und
nochmals Recht.
Delia war wahnsinnig.
Ich nahm mir den
Chambers-Band vor und schüttelte alle Dokumente heraus, die zwischen
den Seiten steckten. Die Briefe flatterten heraus wie tote Motten und
landeten auf einem Haufen auf dem Teppich. Dann kniete ich mich hin und
fing an, sie zu sortieren. Ben und Sir Henry saßen am Tisch und
sahen mir verwundert zu.
Ich hatte Beweise, zum
Teufel. Ros’ Karteikarte. Jeremy Granvilles Brief an Professor
Child. Ophelias Brief an Jem. Ihren viel späteren Brief an Emily
Folger. Der Brief von Lady Pembroke an ihren Sohn -Wir haben den Mann
Shakespeare bey vns. Wills Brief an den süßen Schwan. Die
Widmung in Derbys Folio. Und schließlich - bei Weitem das schönste
Beweisstück - die Miniatur des jungen Mannes vor flammendem
Hintergrund, die sich in Ophelias Brosche verbarg.
Was wussten wir? Was wussten
wir wirklich?
Shakespeare schreibt ein Stück,
das auf der Geschichte des Cardenio aus Cervantes’ Roman ›Don
Quixote‹ beruht - ein Stück, das außerdem eine hässliche
Episode der Howard’schen Familiengeschichte widerspiegelt. Das Globe
brennt ab, das Stück verschwindet.
Jahre später schreibt
»Will« - wahrscheinlich William Stanley Graf von Derby - einen
Brief an den »süßesten Schwan, der je über den Avon
glitt« - wahrscheinlich Mary Sidney Gräfin von Pembroke -, in
dem er sagt, dass ihm die Idee einer Gesamtausgabe nicht schlecht gefällt,
solange ›Cardenio‹ nicht mit hineinkommt - er selbst werde
die Sache jemandem am Royal College of St. Alban in Valladolid erklären.
Egal was Derby sonst nach Spanien sendet, er schickt jedenfalls später
einem gewissen Pater William Shelton - dem Bruder des
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