Die Shakespeare-Morde
ich.
»Es ist noch da«,
sagte Athenaide mit leuchtenden Augen.
»Sie haben es gesehen?«
Matthew nickte. »Die
Kinder konnten es nicht entziffern«, fuhr er fort. »Jems
Lehrer erkannte zwar, dass es sich um eine Schimäre handelte, doch in
dieser Zusammensetzung hatte er noch nie eine gesehen. Als die beiden ihm
verrieten, dass sie das Bild in einer Kirche gefunden hatten, mutmaßte
er, dass es sich um ein Zeichen Satans handeln könnte.«
Einen Monat später, als
Delia in die Anstalt von Henley eingeliefert wird, zeigt Ophelia ihr die
Zeichnung. Der Anblick wühlt Delia auf, und sie beginnt sich in ihrem
Sessel hin- und herzuwiegen. »Jener sei verflucht, der rührt an
mein Gebeine«, murmelt sie wieder und wieder. »Jener sei
verflucht…« Ein paar Wochen später kommt ihr Neffe und
bringt sie nach Amerika zurück.
Bei ihrem nächsten
Besuch in Stratford sagt Ophelia zu Jem, dass sie sich vor dem Fluch fürchte
und die Zeichnung zurücklegen wolle. Doch Jem weigert sich, ihr dabei
zu helfen. »Du bist genauso verrückt wie Miss Bacon«,
weist er sie ab.
»Der kleine Feigling«,
sagte Athenaide verächtlich. »Wahrscheinlich hatte er mehr
Angst als sie.«
Ophelia soll Jem erst zehn
Jahre später Wiedersehen. Jem war nach Oxford gegangen und hatte dann
über Beziehungen eine Stelle als Tutor des jungen Grafen von Pembroke
bekommen.
»Wilton House«,
sagte ich.
Der junge Graf, fuhr Matthew
fort, hatte den Titel und das Schloss erst kürzlich von einem Onkel
geerbt, der im Ausland lebte -und starb, bevor er das Familienwissen
weitergeben konnte. Es gab Gerüchte um Shakespeares Spuren im Haus,
doch das war alles.
»Hat Jem die Briefe
gefunden?«, fragte ich, und meine Hände schlossen sich fester
um das Tagebuch.
Matthew lächelte.
»Das schimärische Tier trieb ihn in Ophelias Arme zurück.«
Gemeinsam rekonstruieren
Ophelia und Jem die Verbindung zwischen dem süßen Schwan aus
dem Brief und dem Umriss der Schimäre. Jem weiß, welche
Personen passen: Es sind Lady Pembrokes Schwan, Bacons Eber, Shakespeares
Falke und Speer und der Adler und das Kind des Grafen von Derby. Der
Einzige, den sie übersehen, ist Oxford, der zweite Eber oder Keiler.
Miss Bacon habe geglaubt,
dass Shakespeare eine Verschwörung gewesen sei, erklärt Jem
Ophelia, und er glaube inzwischen, dass sie recht hatte. Doch er geht noch
weiter: »Seien mit den Leibern die Namen eingesargt.« Die
Beweise, versucht er Ophelia zu überreden, müssen in den Gräbern
aller Beteiligten liegen. Shakespeares Grab trägt das Zeichen der
Schimäre; und er ist überzeugt, dass die anderen Gräber das
gleiche Zeichen tragen.
Allerdings ist Lady Pembrokes
Grab seit langer Zeit unter irgendwelchen Stufen in der Kathedrale von
Salisbury versiegelt. Was Bacon angeht, so hatte man zwar seinen
Gedenkstein in der Kirche von St. Albans gefunden, doch sein Grab ist
verschwunden. Und selbst wenn Jem von Oxford gewusst hätte, dachte
ich, hätte ihm das nicht viel geholfen. Die Kirche, in der Oxfords
Gebeine lagen, war im 18. Jahrhundert geplündert worden, die letzte
Ruhestatt des Grafen war unbekannt.
Somit blieb nur Derbys Grab
in Lancashire.
Eine Wochen später
brennen Ophelia und Jem durch.
Die alte Krypta der Grafen
von Derby liegt in Ormskirk, einem Marktflecken auf einer Tiefebene, die
von einer Hügelkette im Osten und im Westen vom Meer begrenzt wird.
»Ormskirk heißt so viel wie die ›Kirche des Wurms‹«,
erklärt Jem Ophelia. »Oder Kirche des Drachen, in der
Wikingersprache.« In der alten Gemeindekirche Saint Peter and Saint
Paul führt er Ophelia in eine Seitenkapelle, die bis auf zwei
ramponierte Marmorstatuen leer ist - einen Ritter und seine Dame. In der
Mitte befindet sich eine Falltür, unter der eine steile Treppe nach
unten führt.
Ich bat Matthew, mich
weiterlesen zu lassen:
… schlug uns der
Geruch von Knochen und Staub entgegen, von kaltem Stein und der Bitterkeit
der neidischen, modernden Toten. Etwa dreißig Särge stapelten
sich in Nischen an den Wänden. In der Mitte der Krypta war ein bunter
Haufen von Sockeln mit steinernen Abbildern. Einige zeigten Damen in
langen Gewändern, doch die meisten waren Männer, manche mit Perücke,
andere in Rüstung, und drei in Wämsern und Strumpfhosen. Einer
davon hielt eine steinerne Truhe.
In den Deckel war die
Schimäre
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