Die Shakespeare-Morde
gemeißelt.
Jem holte mit dem
Brecheisen aus und schlug zu.
»Ich fürchte, hier
müssen wir aufhören«, sagte Athenaide, und ich blickte
blinzelnd auf.
Wir hatten die Landstraße
hinter uns gelassen. Stattdessen sah ich große Fabrikgebäude,
grelle Scheinwerfer und eine riesige asphaltierte Piste. Dann hörte
ich ein lautes Dröhnen. Der Wagen bog ab und blieb direkt vor
Athenaides Jet stehen.
»Wo fliegen wir hin?«,
fragte ich.
»Jems Schatz finden«,
sagte Athenaide.
*
Sobald ich mich angeschnallt
hatte, noch bevor das Flugzeug abhob, schlug ich Ophelias Tagebuch auf.
In der zersplitterten
Steintruhe in der Krypta finden Jem und Ophelia ein Bildnis. Das
Miniaturporträt eines jungen Mannes mit goldenem Haar vor einem
Hintergrund aus Flammen.
Der Hilliard. Ich wollte nach
der Brosche greifen, doch ich stoppte mich im letzten Moment. Ich spürte
Athenaides Blick. Warum war der Hilliard in einer Truhe auf Derbys Grab
verborgen?
»Da waren Briefe«,
sagte Matthew unruhig.
Ich las weiter. Zwei Briefe,
um genau zu sein. Auf Latein geschrieben, aus Valladolid. Jem übersetzt
sie hastig für Ophelia. Der erste Brief ist eine Danksagung für
ein Buch und ein Manuskript. Das Buch sei wunderbar, sagt der Schreiber -
zu wunderbar. Er sei froh, es erhalten zu haben, doch er werde es nicht
mitnehmen können. Das Manuskript dagegen werde er immer bei sich
tragen. Das Stück sei noch viel besser als erwartet. Er habe laut
lachen müssen, und das könne er dort, wo er hingehe, gut
gebrauchen.
»›Cardenio‹«,
sagte Athenaide.
»Und die Folio aus
Valladolid«, sagte Matthew.
Es passte alles zusammen, das
musste ich zugeben. Trotzdem war der Brief kein eindeutiger Beweis.
Der Schreiber hatte das Buch nicht beim Namen genannt.
Der zweite Brief kommt
ebenfalls aus Valladolid, aber er stammt nicht vom gleichen Absender. Mit
seltsam triumphierendem Bedauern wird darin berichtet, dass William
Shelton mit einem Erkundungstrupp nach Santa Fe in Neuspanien gereist sei,
wo er die Seelen der Wilden zum richtigen Glauben habe bekehren wollen,
doch er sei nie zurückgekehrt. Seit einem Gefecht mit den Wilden
werde er vermisst und sei wahrscheinlich den Märtyrertod gestorben.
Es habe geografische Angaben
gegeben, schrieb Ophelia, aber sie habe sie vergessen.
Im gleichen Moment tauchen
Jems und ihr Vater in der Kirche auf.
Papa stürzte mit
zornesfunkelnden Augen die Treppe herunter, doch als er mich sah, schmolz
sein Ärger, und er stand vor mir wie ein alter Mann. Und obgleich ich
tausendmal beschlossen hatte, standfest zu bleiben, verließ ich Jems
Seite und stellte mich auf die meines Vaters. Pfarrer Granville schritt an
uns vorbei und baute sich vor Jem auf, dann schlug er ihm mit solcher
Kraft ins Gesicht, daß der arme Jem sich um die eigene Achse drehte
und in der stinkenden Gruft zu Boden stürzte.
Ihre heimliche Hochzeit ist
ungültig, wie sich herausstellt, weil Ophelia noch nicht mündig
ist. »Am nächsten Tag heirateten sie ein zweites Mal«,
sagte Athenaide leise, »und diesmal waren die Väter die Zeugen.
Aber die beiden durften nicht als Eheleute Zusammenleben, bis Jem genug
Geld verdiente, um sie zu ernähren.«
»Keine leichte Aufgabe
für den jüngeren Sohn eines Pfarrers«, bemerkte Matthew.
»Er wurde vor die Wahl
gestellt«, fuhr Athenaide fort, »Indien oder Amerika.«
»Und er wählte
Amerika«, sagte ich.
Athenaide nickte. »Er
machte sich auf die Suche nach dem Manuskript, das der Priester bei sich
zu tragen versprochen hatte.«
Das Flugzeug hatte die
Reiseflughöhe erreicht. Wir schnallten uns ab und setzten uns an den
Konferenztisch, wo wir das Tagebuch vor uns aufschlugen und die Geschichte
weiterverfolgten.
Diesmal soll die Trennung fünfzehn
Jahre dauern. Doch anstatt in Selbstmitleid zu versinken, engagiert
Ophelia einen Lehrer und lernt Spanisch und Latein. Sobald sie über
ihr eigenes Geld verfügen darf, reist sie nach Valladolid. Im Royal
College of St. Alban zeigt man ihr den dortigen Bestand - auch die
Folio-Ausgabe - und schickt sie weiter zum Archivo General de Indias in
Sevilla. Nach einer beschwerlichen Suche findet sie schließlich den
Augenzeugenbericht eines Überlebenden und anbei eine primitive
Landkarte. Sie fertigt von beidem eine Kopie an und reist zurück nach
London, wo sie eine First-Folio-Ausgabe ersteht.
»Das
Weitere Kostenlose Bücher