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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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kennengelernt. Draußen prasselte der Regen gegen die Wagenfenster.
     Wir hatten Stratford hinter uns gelassen und rasten über dunkle
     Felder durch die Nacht. Athenaide erzählte weiter. »Der Mann
     aus Stratford, behauptete Miss Bacon, sei ein falscher Fuffziger gewesen,
     eine Karnevalsmaske, die sich die wahren Autoren aufsetzten, um nicht den
     Zorn der autokratischen Herrscher auf sich zu ziehen. Doch die Zeit sei
     gekommen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, sagte sie. Dann, als wollte
     sie ein großes Geheimnis lüften, winkte Miss Bacon die
     Gesellschaft näher heran. ›Was Menschen Übles tun, das
     überlebt sie‹, flüsterte sie. ›Das Gute wird mit
     ihnen oft begrabene«
    »Aber das ist dasselbe
     Zitat, das als Widmung in der Folio-Ausgabe in Valladolid steht«,
     sagte ich. »Dasselbe, das Ophelia in ihrem Brief an Mrs Folger
     verwendet hat.«
    Athenaide blätterte
     durch das Tagebuch und zeigte auf eine Passage:
     
    Die Wahrheit verbirgt sich
     in Dokumenten, flüsterte Miß Bacon, die in einem Hohlraum unter
     der Grabplatte des von ihnen auserwählten Mittlers versteckt seien -
     dem Grab von Shakespeare aus Stratford.
    Sie habe gewisse Beweise
     dafür in Sir Francis Bacons Schriften gefunden - in seinen poetischen
     Schriften, wie sie augenzwinkernd sagte.
    »Seien mit dem Leib
     meine Namen eingesargt.«
     
    Ich runzelte die Stirn. Auch
     diesen Vers kannte ich aus der Folio in Valladolid. Doch wurde er falsch
     zitiert - ›Namen‹ im Plural statt ›Name‹ im
     Singular -, und außerdem stammte er nicht von Francis Bacon, sondern
     von Shakespeare, aus einem seiner Sonette. Andererseits glaubte Delia,
     dass Sir Francis und Shakespeare ein und dieselbe Person wären.
    »Der Pfarrer gab Delia
     die Erlaubnis, das Grab zu öffnen«, erklärte Matthew.
    Eine Woche später, an
     einem kühlen Septemberabend, begibt sich Delia Bacon in die Kirche,
     um ihre Mission zu erfüllen. Doch sie ist nicht allein.
     Abenteuerlustig waren Jem und Ophelia aus ihren Betten ausgerissen und
     haben sich zwischen den Kirchenbänken versteckt, bevor Delia zu Werke
     geht.
    Sie hatten sie beobachtet.
    Das Kirchenportal öffnet
     sich mit einem kalten Luftzug, und Delia taucht auf, von Herbstlaub
     umwirbelt. Im Altarraum hält sie die Laterne hoch und liest laut den
     Fluch, der auf dem Grabstein steht. Dann öffnet sie einen Sack, legt
     eine Decke auf den Boden vor das Grab und kniet sich hin. Sie hebt den Meißel
     über den Kopf wie einen Dolch. Währenddessen
     kauern Ophelia und Jem zwischen den Bänken.
    Doch es geschieht nichts.
     Delia sitzt wie versteinert da - eine Hand gegen das Herz gepresst,
     schreibt Ophelia in ihrem Tagebuch, mit der anderen den Meißel
     schwingend wie ein Cherub das Flammenschwert, mit dem er das Tor zum
     Himmelreich bewacht. In dieser Position verharrt sie, bis die Turmuhr zehn
     schlägt. Dann, als wäre der Bann gebrochen, lässt sie den
     Arm sinken und kommt auf die Füße. Plötzlich wird sie von
     wildem Gelächter geschüttelt, das ebenso schnell wieder
     erstirbt. »›Was ist Wahrheit?‹, fragte Pilatus spöttisch«,
     ruft Delia in die Dunkelheit, »und wartete die Antwort nicht ab.«
     Ohne den Sack und den Meißel wieder einzupacken, läuft sie
     durch die Kirche und flieht in die Nacht.
    »Aber wenn Delia das
     Grab nicht geöffnet hat«, fragte ich, »wer war es dann?«
    »Die Kinder«,
     sagte Athenaide.
    Ophelia und Jem.
    »Mit Delias Werkzeug«,
     erklärte Matthew und blätterte die Seite um. Er las laut vor:
     
    Ein dumpfer Brodem schlug
     uns entgegen. Doch es waren keine Gebeine in der Gruft. Kein gemeißeltes
     Ebenbild. Keine Truhe mit Papieren oder Gold. Kein blendendes Licht der
     Wahrheit. Nicht einmal die vertrocknete Haut einer Made oder der Panzer
     eines Käfers. Nichts bis auf einen leeren Hohlraum und den glatten
     Stein darunter. Nein -dort war eine Linie, ein schwacher Umriß in
     den Stein gehauen. Während Jem die Grabplatte über mir
     hochstemmte, machte ich einen Abrieb mit dem Papier und dem Bleistift, die
     Miß Bacon zurückgelassen hatte. 
     
    Auf die nächste Seite
     hatte Ophelia ein mit blassem Graphit geschwärztes Blatt geklebt.
     Schwache weiße Linien deuteten eine Silhouette an, die ich schon
     einmal gesehen hatte: der lange Hals und der Kopf eines Schwans,
     Adlerschwingen, die sich zu Schweineköpfen verjüngten, ein Baby
     in einer Klaue und die Lanze in der anderen. »Das schimärische
     Tier«, sagte

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