Die Shakespeare-Morde
kennengelernt. Draußen prasselte der Regen gegen die Wagenfenster.
Wir hatten Stratford hinter uns gelassen und rasten über dunkle
Felder durch die Nacht. Athenaide erzählte weiter. »Der Mann
aus Stratford, behauptete Miss Bacon, sei ein falscher Fuffziger gewesen,
eine Karnevalsmaske, die sich die wahren Autoren aufsetzten, um nicht den
Zorn der autokratischen Herrscher auf sich zu ziehen. Doch die Zeit sei
gekommen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, sagte sie. Dann, als wollte
sie ein großes Geheimnis lüften, winkte Miss Bacon die
Gesellschaft näher heran. ›Was Menschen Übles tun, das
überlebt sie‹, flüsterte sie. ›Das Gute wird mit
ihnen oft begrabene«
»Aber das ist dasselbe
Zitat, das als Widmung in der Folio-Ausgabe in Valladolid steht«,
sagte ich. »Dasselbe, das Ophelia in ihrem Brief an Mrs Folger
verwendet hat.«
Athenaide blätterte
durch das Tagebuch und zeigte auf eine Passage:
Die Wahrheit verbirgt sich
in Dokumenten, flüsterte Miß Bacon, die in einem Hohlraum unter
der Grabplatte des von ihnen auserwählten Mittlers versteckt seien -
dem Grab von Shakespeare aus Stratford.
Sie habe gewisse Beweise
dafür in Sir Francis Bacons Schriften gefunden - in seinen poetischen
Schriften, wie sie augenzwinkernd sagte.
»Seien mit dem Leib
meine Namen eingesargt.«
Ich runzelte die Stirn. Auch
diesen Vers kannte ich aus der Folio in Valladolid. Doch wurde er falsch
zitiert - ›Namen‹ im Plural statt ›Name‹ im
Singular -, und außerdem stammte er nicht von Francis Bacon, sondern
von Shakespeare, aus einem seiner Sonette. Andererseits glaubte Delia,
dass Sir Francis und Shakespeare ein und dieselbe Person wären.
»Der Pfarrer gab Delia
die Erlaubnis, das Grab zu öffnen«, erklärte Matthew.
Eine Woche später, an
einem kühlen Septemberabend, begibt sich Delia Bacon in die Kirche,
um ihre Mission zu erfüllen. Doch sie ist nicht allein.
Abenteuerlustig waren Jem und Ophelia aus ihren Betten ausgerissen und
haben sich zwischen den Kirchenbänken versteckt, bevor Delia zu Werke
geht.
Sie hatten sie beobachtet.
Das Kirchenportal öffnet
sich mit einem kalten Luftzug, und Delia taucht auf, von Herbstlaub
umwirbelt. Im Altarraum hält sie die Laterne hoch und liest laut den
Fluch, der auf dem Grabstein steht. Dann öffnet sie einen Sack, legt
eine Decke auf den Boden vor das Grab und kniet sich hin. Sie hebt den Meißel
über den Kopf wie einen Dolch. Währenddessen
kauern Ophelia und Jem zwischen den Bänken.
Doch es geschieht nichts.
Delia sitzt wie versteinert da - eine Hand gegen das Herz gepresst,
schreibt Ophelia in ihrem Tagebuch, mit der anderen den Meißel
schwingend wie ein Cherub das Flammenschwert, mit dem er das Tor zum
Himmelreich bewacht. In dieser Position verharrt sie, bis die Turmuhr zehn
schlägt. Dann, als wäre der Bann gebrochen, lässt sie den
Arm sinken und kommt auf die Füße. Plötzlich wird sie von
wildem Gelächter geschüttelt, das ebenso schnell wieder
erstirbt. »›Was ist Wahrheit?‹, fragte Pilatus spöttisch«,
ruft Delia in die Dunkelheit, »und wartete die Antwort nicht ab.«
Ohne den Sack und den Meißel wieder einzupacken, läuft sie
durch die Kirche und flieht in die Nacht.
»Aber wenn Delia das
Grab nicht geöffnet hat«, fragte ich, »wer war es dann?«
»Die Kinder«,
sagte Athenaide.
Ophelia und Jem.
»Mit Delias Werkzeug«,
erklärte Matthew und blätterte die Seite um. Er las laut vor:
Ein dumpfer Brodem schlug
uns entgegen. Doch es waren keine Gebeine in der Gruft. Kein gemeißeltes
Ebenbild. Keine Truhe mit Papieren oder Gold. Kein blendendes Licht der
Wahrheit. Nicht einmal die vertrocknete Haut einer Made oder der Panzer
eines Käfers. Nichts bis auf einen leeren Hohlraum und den glatten
Stein darunter. Nein -dort war eine Linie, ein schwacher Umriß in
den Stein gehauen. Während Jem die Grabplatte über mir
hochstemmte, machte ich einen Abrieb mit dem Papier und dem Bleistift, die
Miß Bacon zurückgelassen hatte.
Auf die nächste Seite
hatte Ophelia ein mit blassem Graphit geschwärztes Blatt geklebt.
Schwache weiße Linien deuteten eine Silhouette an, die ich schon
einmal gesehen hatte: der lange Hals und der Kopf eines Schwans,
Adlerschwingen, die sich zu Schweineköpfen verjüngten, ein Baby
in einer Klaue und die Lanze in der anderen. »Das schimärische
Tier«, sagte
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