Die Shakespeare-Morde
geschrieben, ein dunkles Haus, in dem allein der Todt gedeiht. Sie kannte
die Worte nicht.
Doch nur Augenblicke später
torkelte einer der Jungen, die so gut darin waren, Frauen darzustellen,
als geschändetes und zerzaustes Mädchen auf die Bühne und
rief eben diese Worte ins Publikum. Im gleichen Moment spürte die
Frau, dass sie beobachtet wurde. Sie suchte nach Shakespeares Ausguck
hinter der Bühne, das Gefühl der Bedrohung kam aber nicht von
dort. Langsam wurde ihr Blick zu einer der Logen rechts gezogen. Alle
Gesichter waren ins Stück versunken.
Dann bewegte sich jemand, und
sie sah das weiße Haar und das schmale Gesicht des Grafen von
Northampton. Ihre Blicke trafen sich, und mit einem bösartigen Lächeln
nickte er ihr zu. Dann glitt sein Blick auf das Mädchen.
Auge um Auge war der Kodex,
nach dem er lebte. Ein Priester für einen Priester. Eine Tochter für
eine Tochter.
Sie packte ihre Tochter an
der Hand. »Wir gehen.«
»Aber Mama -«,
protestierte das Mädchen schrill.
»Wir gehen.«
VIERTER AKT
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38
Das Rosenholzkästchen,
das Athenaide mir auf den Schoß gelegt hatte, war viktorianisch, aus
knotigem Wurzelholz mit Perlmutt- und Ebenholzintarsien. »Ich
verstehe das nicht«, murmelte ich verwirrt.
»Alles unter der Sonne
ist käuflich«, sagte Athenaide mehr mit Bedauern als mit Stolz.
»Alarmcodes, Kirchenschlüssel, sogar Polizisten. Gestern Abend
haben wir unser Geld gut angelegt.«
In dem Kästchen lag ein
kleines, in schwarzes Leder gebundenes Buch. Ein Tagebuch. Ich wollte es
herausnehmen, doch Athenaide legte ihre Hand auf meine. »Ich habe
Matthew erzählt, was ich wusste. Doch jetzt müssen Sie zuerst
uns auf den neuesten Stand bringen.«
Ungeduldig erzählte ich
von Westminster Abbey, Wilton House und Valladolid, doch von der Brosche
an der Innenseite meiner Jacke sagte ich nichts. Ohne zu wissen warum,
scheute ich mich, die Miniatur zu erwähnen. Athenaide sah mich prüfend
an. Ich hatte das Gefühl, sie durchschaute mich. Trotzdem ließ
sie, als ich mit meinem Bericht fertig war, meine Hand los und nickte.
Ich nahm das Buch aus dem Kästchen
und schlug es auf. Mai 1881, stand dort in der zarten Handschrift, die mir
bereits vertraut war. Ophelia Granville.
»Ihre Erinnerungen«,
sagte Athenaide, als ich mich vorbeugte und zu lesen begann.
Neben mir rutschte Matthew
ungeduldig auf dem Sitz herum. »Die ersten zehn Jahre kann ich in
zwei Minuten zusammenfassen. Ihre Mutter starb, als sie noch klein
war; ihr Vater war Arzt und leitete eine private Anstalt für Damen in
der kleinen Stadt Henley-in-Arden. Die ›Gäste‹, wie Dr.
Fayrer seine Patientinnen nannte, bewohnten in seinem großen alten
Landsitz den einen Flügel. Den anderen teilte er sich mit seiner
Tochter.«
»Keine ideale Situation
für ein Kind«, bemerkte Athenaide. »Deswegen nahm ihr
Vater sie, sooft er konnte, mit ins benachbarte Stratford, wo sie mit den
Pfarrerskindern spielte.«
»Pfarrer Granville.
Reverend J. Granvilles Kinder«, sagte Matthew.
»Granville?«,
fragte ich.
»Mit den Töchtern
des Pfarrers konnte sie nicht viel anfangen«, sagte Matthew. »Es
gab noch einen älteren Sohn, der in Oxford studierte, doch ihr
Liebling war Jeremy.«
»Jem Granville war der
Sohn des Pfarrers von Stratford?«
»Anscheinend«,
sagte Athenaide. »Eines Sonntags, als Ophelia zehn war, hatte der
Pfarrer außer den Fayrers noch andere Gäste geladen. Darunter
eine große, blauäugige Amerikanerin mit schwarzem Haar und weißen
Strähnen. ›Überirdisch wie die Iren‹, beschreibt
sie Ophelia. ›Wie eine Selkie-Frau oder eine Fee aus den Hügeln.‹
Kaum hatte sie den Raum betreten, war sie sofort der Mittelpunkt des
Salons. Mit ihrem brillanten System praktischer Philosophie, das sie aus
Shakespeares Stücken herauslas, schlug sie die ganze Gesellschaft in
den Bann. Sie sagte, Shakespeares Stücke seien unter dem Deckmantel
der Unterhaltung von den klügsten Köpfen des elisabethanischen
Zeitalters verfasst worden, die ihr Publikum zu würdigen Gefäßen
der höheren Bildung machen wollten, damit sie die Tyrannei
verabscheuten und stets nach Freiheit strebten.«
»Delia Bacon«,
sagte ich. »Sie muss es sein.«
»›Die
Shakespeare-Lady‹, wie Ophelia und Jem sie nannten«, sagte
Matthew.
Ophelia hatte Delia
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