Die Shakespeare-Morde
Rosen den Garaus machen. Und doch blüht sie
treu jedes Jahr aufs Neue, in süßer Überfülle.
»Francis«, sagte
ich plötzlich. »Der Elf unter dem Rosenbusch war Francis Child.«
»Child von der
Child-Bibliothek?«, fragte Matthew.
»Er hatte zwei
Leidenschaften im Leben: Rosen und Shakespeare«, sagte ich. Mein
lieber Francis, hatte Ophelia ihn angeredet.
Während der nächsten
Tage brüten sie gemeinsam über Jems Folio, doch sie finden
nichts. Als sie nicht weiterwissen, mieten sie Pferde und eine vierköpfige
bewaffnete Eskorte und reiten in die Berge, um Jems Claims zu untersuchen.
»Das leuchtet ein,
oder?«, fragte Matthew aufgeregt. »Wenn er etwas gefunden hat,
musste er einen Claim abstecken.«
Matthew hatte recht. Ich habe
etwas entdeckt, hatte Jem an Professor Child geschrieben. Nicht alles gleißt,
was Gold ist, hatte er noch gesagt.
Doch Athenaide schüttelte
den Kopf. »Ich bin überall gewesen«, sagte sie. »Bei
jedem einzelnen Claim. Es ist nichts da. Keine Stollen. Keine Gräber.
Keine Gebäude. Nichts, was sich im Entferntesten als das geheime
Versteck eines Priesters aus dem 17. Jahrhundert eignen würde.«
Ungeduldig las ich weiter:
Du wirst Dich jener Tage
erinnern, wie süß und heiß sie waren, und des letzten
Nachmittags, als wir im Gras der Senke lagen, hoch über uns der Adler
und die Männer hinter der Biegung des Flusses, die im Wasser tollten
und lachten.
Ich will Dir sagen, woran
ich mich erinnere. Nachdem ich fünfzehn Jahre gewartet hatte, lernte
ich an einem einzigen Nachmittag, was es heißt, zu lieben und
geliebt zu werden. Ich weiß, daß es unmöglich ist, doch
ich sehe weiße Rosen vor mir, die auf uns herabschwebten wie
duftender Schnee.
Als sie am Abend nach
Tombstone zurückreiten, treffen sie auf halbem Weg eine schwer
bewaffnete Rettungsmannschaft, die sie zurück in die Stadt
eskortiert. Am Vorabend war der Apachenführer Geronimo ausgebrochen,
er hatte im Schutz der Dunkelheit mit Mann und Maus das Reservat
verlassen. Ein weiterer Apachenkrieger, der im Norden von Sonora kämpfte,
hatte in New Mexico eine breite Schneise der Verwüstung angerichtet.
Ophelia und Francis wollen
sich nur noch einen Claim ansehen -Kleopatra. Doch über Nacht hatte
sich die Welt verändert. Niemand würde sie auch nur einen
Kilometer hinter die Stadtgrenze begleiten, und erst recht nicht in die
Berge. Sie können nicht einmal Pferde mieten und allein losziehen.
»Verschwendung von guten Tieren«, knurrt der Mann und spuckt
auf den Boden. Ihre Suche ist vorbei.
Nach einem einsilbigen
Abendessen liegt Ophelia die ganze Nacht wach. Vor Anbruch des Morgens
steht sie auf und zieht sich an. Die Shakespeare-Folio hinterlässt
sie der Wirtin mit der Nachricht: »Für die blonde Frau.«
Vor die Tür des Professors legt sie eine einzelne getrocknete Rose.
Und dann geht sie.
Abrupt endete die Geschichte.
»Blättern Sie
weiter«, sagte Athenaide.
Auf einer leeren Seite
schwebte ein einzelner Satz.
Es wird ein Kind geben.
Die Worte tanzten vor meinen
Augen. »Sie hat es ihm nie gesagt«, erklärte Athenaide
leise. »Sie ging nach England zurück, nahm einen anderen Namen
an und begann Vorlesungen zu halten, wie Delia einst, und auch sie hatte
Erfolg damit. Doch sie kehrte nie zu Jems Claims zurück, und sie hat
sich nie wieder mit dem Professor in Verbindung gesetzt. Sie hätte es
nicht ertragen, dass man sie ansah, wie sie die blonde Frau angesehen
hatte, schreibt sie, und auch den Gedanken nicht, dass die Frau des
Professors fühlte, was Ophelia an jenem ersten Abend für Jem gefühlt
hatte.«
Ich sah auf.
»Einen letzten Teil hat
sie noch geschrieben«, sagte Matthew. »1929.« Er blätterte
zum Ende des Tagebuchs vor, wo Ophelias Schrift wieder die Seiten füllte.
Ich las den letzten Eintrag.
… ist längst
eine wunderschöne Frau. Wenn sie nach ihrem Vater fragt, sage ich
immer, sie sei Shakespeares Tochter.
Wahrscheinlich hätte
ich wissen müssen, daß sie zum Theater gehen würde. Sie
hat Erfolge in London und in New York gefeiert - auch wenn selbst das der
Vergangenheit angehört. Manchmal frage ich mich, ob Du sie je gesehen
hast und ob Dein Herz dabei in Deiner Brust pochte, ohne daß Du wußtest,
weshalb.
Ich habe sie nach
Shakespeare genannt, und nach den Rosen, die ihr Vater so liebte:
Rosalind.
Rosalind
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