Die Shakespeare-Morde
Hedingham. Dem Stammsitz des Grafen von Oxford in Essex, nordöstlich
von London. Eins der schönsten erhaltenen Beispiele normannischer
Architektur.«
Einen Moment blieb ich auf
der Schwelle stehen und sah mich um. Der Stammsitz des Grafen von Oxford.
Oxfords Hedingham in Hamlets Helsingor, in der Geisterstadt Shakespeare.
Das perfekte Matroschka-Spiel einer Milliardärin.
Nicht, dass der Anblick
prunkvoll war - nach all der barocken Pracht von Wilton House wirkte die
mittelalterliche Schlichtheit des Saals beinahe spartanisch. Bis auf den
Tisch, ein paar Stühle und Kissen in der Mitte und die Vitrinen an
der Wand gab es nicht viele Möbel.
Graciela servierte ein kaltes
Abendessen - Salade Niçoise mit Räucherlachs, frischen Brötchen
und einer leicht gekühlten Flasche würzigem Pinot Noir. Die Gläser,
die sie brachte, waren mundgeblasen, aus blauem und weißem Glas,
wahrscheinlich echte venezianische Kelche aus dem 17. Jahrhundert.
Athenaide übergab mir
Ophelias Tagebuch, dann ging sie an den Tresor und hielt ihre Hand an den
Scanner. Die Tür sprang auf, und sie nahm ein Buch heraus. Der
Einband war von der Wüstenhitze verzogen und das rote Leinen
ausgefranst und verblichen.
Graciela schenkte Wein ein,
dann ließ sie uns allein.
Athenaide legte das Buch auf
den Tisch. »Vero nihil verius«, sagte sie. »Nichts ist
wahrer als die Wahrheit. Was die Wahrheit auch bringt.« Dann schob
sie das Buch in meine Richtung. »Öffnen Sie es.«
40
Die Titelseite von Jems Folio
ließ sich leicht aufschlagen. Gegenüber von Shakespeares
missbilligendem Blick waren zwei Unterschriften: Ophelia Fayrer Granville , in kleinen ordentlichen
Buchstaben am oberen Rand; darunter, in größeren, lockeren
Kurven Jem
Granville . Weiter
unten stand in Ophelias Handschrift das Sonett aus der First Folio in
Valladolid.
»Es muss etwas sein,
das hier, und nur hier, in diesem Buch, steht«, sagte Matthew.
»Jem sprach von ›meinem jakobäischen Magnum opus‹.«
Außer den Namen und den
Versen war die Seite leer. Doch das Papier war angesengt und wellig, als wäre
es nass geworden. Anscheinend hatte jemand - Ophelia? - versucht, mittels
Wasser, oder einer anderen Flüssigkeit, und Hitze eine geheime
Botschaft ans Licht zu bringen. Da manche unsichtbaren Tinten unter
Hitzeeinwirkung sichtbar werden und wieder verschwinden, wenn sie abkühlen,
zündete Athenaide eine Kerze an, und wir versuchten noch einmal, die
Seite zu erhitzen. Nichts.
Ich blätterte durch die
Seiten und suchte nach Randbemerkungen. Die einzigen, die ich fand, waren
zu ›Hamlet‹ - und die sahen aus wie Notizen für Jems
Aufführung. Egal wie ich sie las, ich konnte keine andere Bedeutung
erkennen. Mit meinem Glas ging ich im Saal auf und ab und dachte nach.
Irgendwo musste die chiffrierte Botschaft sein. Es gab keine andere Möglichkeit.
Dann schlug ich das Tagebuch
auf und las noch einmal den Satz, den Ophelia aus Jems Brief
zitierte, genau wie er an sie geschrieben hatte: Ps. Falls Du Zweifel
hast, in meinem jakobäischen Magnum opus habe ich die Stelle
chiffriert -1623, die Seite mit der Signatur. Ich biss mir auf die Lippe.
Irgendetwas hatten wir übersehen.
Was?
Ich hätte alles darum
gegeben, Ophelias Brief an Emily Folger noch einmal zu lesen. Doch ich
hatte den Brief, zusammen mit den anderen, bei Barnes in Stratford
gelassen. Sir Henry, der Mistkerl. Also schloss ich die Augen und
versuchte mich zu erinnern. Ophelia hatte geschrieben: »Jakobäisches
Magnum opus, c… 1623« - wobei das Wort, das mit c begann,
unleserlich war. Ich glaubte, mich richtig zu erinnern, doch ohne den
Brief vor Augen konnte ich nicht sicher sein.
Abrupt stellte ich das
Weinglas auf den Tisch und sah mir das Tagebuch näher an. Auf der Rückseite
der Chambers-Karteikarte hatte Ros geschrieben: Jakobäisches Magnum
opus, A. D. 1623 - und damit Shakespeares Folio gemeint, was ich nie
angezweifelt hatte. Keine schlechte Vermutung, wenn man die Stichworte
Shakespeare, jakobäisches Magnum opus und das Jahr 1623 zusammennahm.
Doch Ros hatte unrecht, als
sie Ophelias c als Abkürzung für ›circa‹ las. Und
wenn man das Wort ›chiffriert‹ benutzte, wie Jem es getan
hatte, dann war der Satz lange nicht mehr so klar.
In Ros’ Interpretation
hatte sich die Jahreszahl 1623 auf das Magnum opus bezogen. Doch bei Jem
konnte es sich genauso gut
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