Die Shakespeare-Morde
Drogen.«
Sinclair sah Sir Henry an.
»Ein Einstichloch, Singular, spricht auch nicht dafür.«
»Aber wofür
spricht es dann?«, fragte Sir Henry.
»Sagen wir einfach, ich
nehme Ms Stanleys Verdacht einer Fremdeinwirkung ernst.« Er wandte
sich wieder an mich: »Und ich wäre sehr dankbar für Ihre
Kooperation.« Er legte die Fingerspitzen aneinander und musterte
mich.
Angst wallte in mir auf. Am
Nachmittag hatte ich Ros abblitzen lassen. Jetzt hätte ich alles für
ein Gespräch mit ihr gegeben - ich wollte sie anschreien, ihr zuhören,
mich umarmen lassen, so lange sie wollte -, doch sie war fort.
Unwiederbringlich und endgültig fort, ohne ein Wort der Erklärung
oder Entschuldigung. Ohne Abschied, und ohne einen letzten Rat.
Nichts als eine Anweisung.
Pass gut darauf auf hatte sie gesagt.
Doch falls ihr Geschenk einen
Wächter brauchte, dachte ich ärgerlich, wo wäre es sicherer
als bei der Polizei? Insbesondere da die Polizei - oder zumindest dieser
Inspektor - so scharf darauf war, etwas von mir zu bekommen.
Aber Ros war nicht zur
Polizei gegangen. Sie kam zu mir. Und bei Sinclair war ich mir alles
andere als sicher. Wieder sah ich ihm direkt in die Augen und log. »Mehr
weiß ich nicht.«
Er schlug mit der Faust auf
die Bank, so fest, dass Sir Henry und ich zusammenzuckten. »Bei uns
in England ist es eine Straftat, bei einer Mordermittlung Informationen
zurückzuhalten, Ms Stanley. Eine Straftat, die streng geahndet wird.«
Dann kam er so nah, dass ich den Pfefferminzgeruch seines Atems riechen
konnte. »Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Mit klopfendem Herzen nickte
ich.
»Zum allerletzten Mal,
ich bestehe darauf, dass Sie mir alles sagen, was Sie wissen.«
Sir Henry stand auf. »Das
reicht jetzt.«
Sinclair setzte sich abrupt
zurück, seine Kiefer mahlten. Dann entließ er uns mit einer
knappen Handbewegung. »Sprechen Sie nicht mit der Presse, und
verlassen Sie die Stadt nicht. Ich komme auf Sie beide zurück. Für
heute gute Nacht.«
Sir Henry nahm mich beim
Ellbogen und führte mich hinaus. Wir waren schon fast an der Tür,
als Sinclair mir hinterherrief: »Wenn es etwas zu finden gibt, Ms
Stanley«, sagte er mit seiner sanften Stimme, »dann finden wir
es, das versichere ich Ihnen.«
Beim ersten Mal hatte es wie
ein Versprechen geklungen. Diesmal war es eine Drohung.
6
Eilig verließ ich das
Theater. Die Straße war mit Einsatzwagen der Polizei und der
Feuerwehr vollgestellt. Sir Henry winkte ein Taxi heran. Als das Taxi
hielt, küsste ich ihn auf die Wange und stieg ein. »Highgate«,
sagte ich zum Fahrer, bevor ich richtig saß - und stellte dann erst
fest, dass Sir Henry mitkam.
Ich wollte protestieren, doch
er hob die Hand. »Um nichts in der Welt lasse ich dich allein nach
Hause fahren, Darling. Nicht heute Abend.« Er zog die Tür
entschieden hinter sich zu, und das Taxi fuhr los. Ungeduldig betastete
ich Ros’ Geschenk in meiner Tasche. Wie lange dauerte es noch, bis
ich allein war und es öffnen konnte?
Der Wind hatte aufgefrischt
und jagte die Wolken über den Himmel. Über der Stadt hing der
schwere, beißende Geruch des ausgebrannten Feuers. Von der Waterloo
Bridge warf ich einen Blick nach Osten auf die Millennium Bridge, wo sich
immer noch die Schaulustigen drängten. Links drehte das London Eye
sein starres Auge langsam durch die Nacht; weiter im Westen strahlten der
Big Ben und die Houses of Parliament wie goldene Bordüren. Dann waren
wir über die Brücke und reihten uns in den Stadtverkehr ein. Ich
beugte mich vor, als könnte ich das Taxi dazu bringen, schneller
durch die schmalen Gassen zu fahren. Die Straßen stiegen stetig an,
bis wir den Grat erreichten, der London im Norden begrenzte.
Sir Henry hatte sich im Sitz
zurückgelehnt und beobachtete mich mit verhangenem Blick. »Ein
Geheimnis ist wie ein Versprechen«, sagte er leise. »Aber es
kann auch zum Käfig werden.«
Ich sah ihm in die Augen. Wie
weit durchschaute er mich? Wie weit konnte ich ihm trauen? Ros hatte ihm
vertraut - vielleicht nicht mit dem Geheimnis in der Schachtel, aber doch
mit mir.
»Ich würde dir
gerne meine Hilfe anbieten«, sagte er. »Aber ich habe meinen
Preis.«
»Kann ich ihn mir
leisten?«
»Das hängt davon
ab, ob du dir die Wahrheit leisten kannst.«
Bevor ich es mir anders
überlegen konnte, griff ich in die Tasche und zog die Schachtel
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