Die Shakespeare-Morde
heraus. »Das hat sie mir heute Nachmittag im Theater gegeben. Sie
hat mir gesagt, ich soll gut darauf aufpassen.«
Neugierig betrachtete er die
Schachtel, die im Licht der Straßenlaternen glänzte, und im
ersten Moment dachte ich, er würde sie mir aus der Hand reißen.
Stattdessen würdigte er die Tatsache, dass ich sie noch nicht
ausgepackt hatte. »Bewundernswerte Selbstbeherrschung«, sagte
er mit hochgezogener Braue. »Oder wollte sie, dass du es auch vor
dir selbst beschützt?«
»Nein, aber sie sagte,
wenn ich es aufmache, muss ich dem Weg folgen, den es weist.«
Er seufzte. »Der Tod,
meine Liebe, verändert alles.«
»Sogar ein Versprechen?«
»Sogar einen Fluch.«
Ich hatte Ros’ Geschenk
als Trojanisches Pferd verspottet, aber Sir Henry hatte recht, in vielen
Mythen und Märchen steckte ein Fluch hinter solchen Gaben. Rote
Schuhe, die nie zu tanzen aufhörten, oder dass sich alles, was man
berührte, in Gold verwandelte.
Das ist doch absurd, schoss
es mir durch den Kopf. Mit einer Handbewegung riss ich das Papier von der
Schachtel. Das Goldpapier schwebte einen Augenblick zwischen uns in der
Luft, bevor es zu Boden sank. In der Hand hielt ich ein schwarzes Satinkästchen.
Vorsichtig klappte ich den Deckel auf.
Auf einem Samtkissen lag eine
Brosche aus schwarzem Jett. Sie war mit Blumen bemalt und in eine
feingliedrige Fassung aus Gold eingelassen. Das Schmuckstück war
wunderschön, wenn auch irgendwie altmodisch. Es war etwas, das meine
Großmutter getragen hätte. Nicht Ros. Und bestimmt nicht ich.
Aber was meinte Ros, als sie sagte: Folge dem Weg, den es weist?
Sir Henry runzelte die Stirn.
»Die Blumen hast du sicher erkannt.«
Ich betrachtete das schwarze
Oval. »Stiefmütterchen. Gänseblümchen«, sagte
ich kopfschüttelnd. »Die anderen kenne ich nicht. Ich bin in
der Wüste aufgewachsen, Sir Henry. Dort sehen die Blumen anders aus.«
»Es sind die Blumen aus
›Hamlet‹. Ophelias Blumen.« Er beugte sich vor und
zeigte mit dem kleinen Finger auf die einzelnen Blüten. »Vergissmeinnicht
und Stiefmütterchen, Fenchel und Akelei. Schau -ein Gänseblümchen,
und sogar ein paar verwelkte Veilchen. Und Raute. Da ist Raute für
Euch, und hier ist welche für mich. Wir können sie
Sonntagsgnadenkraut nennen.« Er schnaubte. »Gnadenkraut! Wohl
eher Todes- oder Wahnsinnskraut. Die britische Version von Weihrauch und
Myrrhe. Ende des 19. Jahrhunderts beliebt als Trauerschmuck, wenn eine
junge Frau gestorben war … Eine morbide Ära damals, bei all
ihrer Größe.« Er lehnte sich zurück. »Du hast
hier also eine viktorianische Trauerbrosche vor dir. Die Frage ist, warum.
Meinst du, Ros hat geahnt, dass sie sterben würde?«
Ich schüttelte den Kopf
und strich mit dem Finger über die filigrane Fassung. Ich hatte am
Nachmittag ein ungutes Gefühl gehabt, doch größer war ihre
Aufregung gewesen. Ich habe etwas entdeckt, hatte sie gesagt. War es das
hier? Gab es eine Botschaft, die sich zwischen den Stiefmütterchen
und Gänseblümchen versteckte? Doch die Brosche lag trotzig
schweigend in ihrer Schachtel.
Wir bogen in meine Straße
ein, wo sich viktorianische Fassaden aus grauem Stein aneinanderreihten.
Selbst an einem sommerlichen Nachmittag war dies eine der stillen Gegenden
Londons; um zwei Uhr früh war alles wie ausgestorben, bis auf den
Wind, der um die Ecken pfiff, an den Bäumen zerrte und die Bürgersteige
mit silbrigen Lichtflecken tupfte.
Am Ende der Straße flog
ein Vorhang aus einem offenen Fenster und flatterte geisterhaft im Wind.
Das Haus, in dem ich wohnte, stellte ich beim Näherkommen fest. Mein
Wohnzimmerfenster im zweiten Stock. Mit einem Mal schmeckte ich kalte,
prickelnde Angst auf der Zunge. Ich hatte das Fenster nicht offen
gelassen.
Das Taxi wurde langsamer. In
meinem Fenster zuckten Schatten im böigen Wind, und plötzlich
sah ich ihn zum zweiten Mal in dieser Nacht. Einen dunklen Umriss, schwärzer
als die ihn umgebende Nacht - weniger eine Gestalt als die Abwesenheit
einer Gestalt, ein schwarzes Loch in der Form eines Menschen.
»Fahren Sie weiter«,
flüsterte ich.
»Aber -«
»Fahren Sie.«
7
Als wir das Ende der Straße
erreichten, blickte ich zurück. Der Vorhang war verschwunden,
Mondlicht spiegelte sich in der Fensterscheibe. Kein Schatten war darin zu
sehen. Hatte ich geträumt? Meine Hand schloss sich fester um das
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