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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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heraus. »Das hat sie mir heute Nachmittag im Theater gegeben. Sie
     hat mir gesagt, ich soll gut darauf aufpassen.«
    Neugierig betrachtete er die
     Schachtel, die im Licht der Straßenlaternen glänzte, und im
     ersten Moment dachte ich, er würde sie mir aus der Hand reißen.
     Stattdessen würdigte er die Tatsache, dass ich sie noch nicht
     ausgepackt hatte. »Bewundernswerte Selbstbeherrschung«, sagte
     er mit hochgezogener Braue. »Oder wollte sie, dass du es auch vor
     dir selbst beschützt?«
    »Nein, aber sie sagte,
     wenn ich es aufmache, muss ich dem Weg folgen, den es weist.«
    Er seufzte. »Der Tod,
     meine Liebe, verändert alles.«
    »Sogar ein Versprechen?«
    »Sogar einen Fluch.«
    Ich hatte Ros’ Geschenk
     als Trojanisches Pferd verspottet, aber Sir Henry hatte recht, in vielen
     Mythen und Märchen steckte ein Fluch hinter solchen Gaben. Rote
     Schuhe, die nie zu tanzen aufhörten, oder dass sich alles, was man
     berührte, in Gold verwandelte.
    Das ist doch absurd, schoss
     es mir durch den Kopf. Mit einer Handbewegung riss ich das Papier von der
     Schachtel. Das Goldpapier schwebte einen Augenblick zwischen uns in der
     Luft, bevor es zu Boden sank. In der Hand hielt ich ein schwarzes Satinkästchen.
     Vorsichtig klappte ich den Deckel auf.
    Auf einem Samtkissen lag eine
     Brosche aus schwarzem Jett. Sie war mit Blumen bemalt und in eine
     feingliedrige Fassung aus Gold eingelassen. Das Schmuckstück war
     wunderschön, wenn auch irgendwie altmodisch. Es war etwas, das meine
     Großmutter getragen hätte. Nicht Ros. Und bestimmt nicht ich.
     Aber was meinte Ros, als sie sagte: Folge dem Weg, den es weist?
    Sir Henry runzelte die Stirn.
     »Die Blumen hast du sicher erkannt.«
    Ich betrachtete das schwarze
     Oval. »Stiefmütterchen. Gänseblümchen«, sagte
     ich kopfschüttelnd. »Die anderen kenne ich nicht. Ich bin in
     der Wüste aufgewachsen, Sir Henry. Dort sehen die Blumen anders aus.«
    »Es sind die Blumen aus
     ›Hamlet‹. Ophelias Blumen.« Er beugte sich vor und
     zeigte mit dem kleinen Finger auf die einzelnen Blüten. »Vergissmeinnicht
     und Stiefmütterchen, Fenchel und Akelei. Schau -ein Gänseblümchen,
     und sogar ein paar verwelkte Veilchen. Und Raute. Da ist Raute für
     Euch, und hier ist welche für mich. Wir können sie
     Sonntagsgnadenkraut nennen.« Er schnaubte. »Gnadenkraut! Wohl
     eher Todes- oder Wahnsinnskraut. Die britische Version von Weihrauch und
     Myrrhe. Ende des 19. Jahrhunderts beliebt als Trauerschmuck, wenn eine
     junge Frau gestorben war … Eine morbide Ära damals, bei all
     ihrer Größe.« Er lehnte sich zurück. »Du hast
     hier also eine viktorianische Trauerbrosche vor dir. Die Frage ist, warum.
     Meinst du, Ros hat geahnt, dass sie sterben würde?«
    Ich schüttelte den Kopf
     und strich mit dem Finger über die filigrane Fassung. Ich hatte am
     Nachmittag ein ungutes Gefühl gehabt, doch größer war ihre
     Aufregung gewesen. Ich habe etwas entdeckt, hatte sie gesagt. War es das
     hier? Gab es eine Botschaft, die sich zwischen den Stiefmütterchen
     und Gänseblümchen versteckte? Doch die Brosche lag trotzig
     schweigend in ihrer Schachtel.
    Wir bogen in meine Straße
     ein, wo sich viktorianische Fassaden aus grauem Stein aneinanderreihten.
     Selbst an einem sommerlichen Nachmittag war dies eine der stillen Gegenden
     Londons; um zwei Uhr früh war alles wie ausgestorben, bis auf den
     Wind, der um die Ecken pfiff, an den Bäumen zerrte und die Bürgersteige
     mit silbrigen Lichtflecken tupfte.
    Am Ende der Straße flog
     ein Vorhang aus einem offenen Fenster und flatterte geisterhaft im Wind.
     Das Haus, in dem ich wohnte, stellte ich beim Näherkommen fest. Mein
     Wohnzimmerfenster im zweiten Stock. Mit einem Mal schmeckte ich kalte,
     prickelnde Angst auf der Zunge. Ich hatte das Fenster nicht offen
     gelassen.
    Das Taxi wurde langsamer. In
     meinem Fenster zuckten Schatten im böigen Wind, und plötzlich
     sah ich ihn zum zweiten Mal in dieser Nacht. Einen dunklen Umriss, schwärzer
     als die ihn umgebende Nacht - weniger eine Gestalt als die Abwesenheit
     einer Gestalt, ein schwarzes Loch in der Form eines Menschen.
    »Fahren Sie weiter«,
     flüsterte ich.
    »Aber -«
    »Fahren Sie.«

 
    7
    Als wir das Ende der Straße
     erreichten, blickte ich zurück. Der Vorhang war verschwunden,
     Mondlicht spiegelte sich in der Fensterscheibe. Kein Schatten war darin zu
     sehen. Hatte ich geträumt? Meine Hand schloss sich fester um das

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