Die Shakespeare-Morde
Sir Henrys Stadtvilla. Vor mir stand sein erschrockener
Butler.
»Seien Sie so lieb,
Barnes, und sehen Sie nach, ob alle Türen und Fenster geschlossen und
verriegelt sind«, sagte Sir Henry gelassen. »Und stellen Sie
die Alarmanlage an. Dann hätten wir gern einen Cognac - den Hine
Antique, würde ich sagen - und ein Feuer im Kamin in der Bibliothek.«
*
Die Bibliothek befand sich im
oberen Stock, ein üppig mit weinrotem Samt und wilden grünen
Pflanzenmotiven nach den Entwürfen von William Morris ausgestattetes
Refugium. Auf den Oberflächen der Marmorbüsten und der Lederbände
in den Eichenregalen spiegelte sich das Licht und schimmerte in den
goldgeprägten Lettern der Bücher. Vor dem Kamin standen zwei
tiefe Sessel; auf einem Tischchen dazwischen hatte Barnes den Cognac und
zwei Schwenker bereitgestellt.
Ich stellte mich ans Feuer.
»Glaubst du an Geister?«
Sir Henry machte es sich in
einem der Sessel bequem. »Das war kein Geist, meine Liebe, der Ros
mit einer Nadel gestochen hat. Oder den Taxifahrer dafür bezahlt hat,
dich im Auge zu behalten.«
Verblüfft drehte ich
mich um. »Deswegen haben wir im Claridge’s einen anderen Wagen
genommen?«
»Allwissenheit«,
sagte Sir Henry, während er den Cognac in die Gläser schenkte,
»mag beim lieben Gott eine feine Sache sein, aber bei jedem anderen
sollte sie uns misstrauisch machen. Du hast dem Taxifahrer weder Straße
noch Hausnummer genannt. Ebenso wenig wie ich. Und doch kannte er deine
Adresse.«
Ich tastete nach dem Sessel
hinter mir und setzte mich auf die Kante. Der Taxifahrer hatte meine Straße
gekannt - er war langsamer geworden und beinahe vor meiner Haustür
stehen geblieben. Wieder hörte ich seine gepresste Stimme - Sie
wollen doch nicht nach Hause? War er enttäuscht? Nervös? Hatte
er Angst? Ich war so in Gedanken gewesen, dass es mir nicht einmal
aufgefallen war. Ein Schauer lief mir über den Rücken. »Da
war jemand in meiner Wohnung.«
Sie Henry reichte mir den
Cognacschwenker. »Wirklich? Das würde mich nicht überraschen.
Der Taxifahrer war nur ein Scherge, meine Liebe. Kein Drahtzieher. Und er
war überaus enttäuscht, dass er sein Paket nicht ordnungsgemäß
abliefern konnte. Was bedeutet, dass ein Drahtzieher dahintersteckt. Oder
zumindest irgendein zweitklassiger Bösewicht, dem er Bericht
erstatten muss.« Bedächtig nahm er sein Glas in beide Hände
und schwenkte die bernsteinfarbene Flüssigkeit hin und her. »Du
bist in Gefahr, Kate. Das jedenfalls ist echt.« Dann holte er tief
Luft und trank einen kleinen Schluck. Sein ganzer Körper schien
aufzuseufzen. »Jungs trinken Claret, Port trinken Männer: Doch
wer ein Held sein will, muss Cognac trinken. Samuel Johnsons Worte, der
weise alte Schwerenöter … Schauen wir uns deine Brosche noch
einmal an.«
Ich holte die Brosche hervor.
Sie lag beinahe schüchtern in ihrer Schachtel. »Ich sehe den
roten Faden einfach nicht. Wie soll ich bloß den Weg finden, den die
Brosche mir weist?«
Sir Henry lächelte.
»Der Ariadnefaden wäre die bessere Analogie. Aber vielleicht
solltest du damit anfangen, dass du sie trägst. Darf ich?« Als
er die Brosche aus der Schachtel nahm, fiel eine Karte heraus, schwebte
einen Moment lang in der Luft, dann segelte sie geradewegs auf den Kamin
zu. Sir Henry sprang auf und rettete sie vor dem Feuer, dann überreichte
er sie mir.
Es war ein kleines Rechteck
aus festem, cremefarbenem Papier, das an der unteren Kante gelocht war.
Über dem Loch standen ein paar Zeilen in lockerer, fließender
Handschrift. Während Sir Henry die Brosche an mein Revers heftete,
las ich laut vor:
Herzlichen Glückwunsch,
kecke Kate, dass Du die öde Frömmigkeit über Bord geworfen
hast, um lang begrabne Wahrheiten in unserem geliebten jakobäischen
Magnum opus ans Licht zu bringen. Ich wette, das Publikum wird Dich bald
ebenso bewundern.
Süßes der Süßen,
R.
»Jakobäisch?«,
fragte Sir Henry scharf.
»So steht es hier.«
Jakob I. hatte England während der zweiten Hälfte von
Shakespeares Karriere regiert. So weit, so gut, doch das Stück, von
dem Ros sprach, wie ich annahm, war ›Hamlet‹, und obwohl
›Hamlet‹ unbestreitbar ein Magnum opus war, ein jakobäisches
war es ganz sicher nicht. ›Hamlet‹ war eindeutig noch zu
Elisabeths Zeiten geschrieben - das letzte und größte aller
elisabethanischen
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