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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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Seiner Ansicht nach gab es zu viele Übersetzungen,
     und keine berief sich auf den neuesten Stand der Hebräisch- und
     Griechischstudien. Der König, der sich selbst als Intellektuellen und
     Poeten rühmte, wollte eine Bibel, die nicht nur korrekt, sondern auch
     wohlklingend übersetzt war - geeignet, laut von der Kanzel verlesen
     zu werden. Eine Bibel, die sich alle seine streitbaren Untertanen teilen
     konnten.
    Die Arbeit der Bischöfe
     war so gut, dass sie alle Hoffnungen übertraf. Die King-James-Bibel
     sollte drei Jahrhunderte lang in allen englischsprachigen Gottesdiensten
     den Ton angeben. Dieser Tatsache war es auch zu verdanken, dass
     Shakespeare in England und in den Kolonien bis weit ins 20. Jahrhundert so
     vertraut klang - bis modernere Übersetzungen in Umlauf kamen und die
     Menschen nicht mehr in die Kirche gingen. Bis dahin hatten die Kirchgänger
     jeden Sonntag gesprochenes jakobäisches Englisch gehört, in
     ritualisierten Lesungen, deren Tonfall und Vokabular sich tief in ihre
     sprachlichen und gedanklichen Gewohnheiten eingegraben hatte. Für
     Millionen von Englisch sprechenden Menschen hatte Shakespeare wie der
     vertraute Sonntagsgottesdienst geklungen.
    »Wie weit ist es zur
     Jiménez-Ranch?«, fragte ich.
    »Zwei Stunden«,
     sagte Athenaide. »Aber in Arizona ist es eine Stunde früher.«
    »Sagen Sie ihr, wir
     sind um fünf da.«
    »Die Bibel ist nicht zu
     verkaufen«, warnte Athenaide.
    »Wir müssen sie
     nicht kaufen, Athenaide. Wir müssen sie nur sehen.«
    Sie legte auf. Dann hob sie
     ihr Glas und sprach einen Toast. »Vero nihil verius.«
    Wir stießen an und
     tranken. Ich nahm einen Stapel Bücher vom Tisch und trug ihn zum
     Tresor. Matthew tat das Gleiche.
    Plötzlich hörte ich
     ein Husten und Würgen hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich,
     dass Athenaides Gesicht blau anlief. Ihr Mund zuckte, zwei Mal, doch es
     kam kein Laut heraus. Dann fiel der Kelch aus ihrer Hand, zerbrach in
     tausend Scherben, und sie sank zu Boden.
    Einen Augenblick später
     waren wir bei ihr. Ihr Puls ging schwach, aber er war noch da. Ich wusste
     nicht, ob sie atmete oder nicht.
    »Ruf den Notarzt«,
     sagte ich und sank in die Knie.
    »Soll ich Erste Hilfe -«,
     bot Matthew an.
    Aber ich hatte schon
     angefangen. »Geh!«, schrie ich. »Finde Graciela.«
    Er zögerte einen
     Augenblick, dann griff er nach Athenaides Telefon. Im gleichen Moment ging
     das Licht aus.
    »Bist du -«,
     begann Matthew.
    »Graciela!«
    Er verschwand. Blind
     bearbeitete ich Athenaides Brust, dann beugte ich mich zu ihr, um sie zu
     beatmen. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich
     pumpte, dann beatmete ich sie wieder. Atme, verdammt noch mal.
    Ich hielt inne, um nach ihrem
     Herzschlag zu horchen, und suchte gleichzeitig nach ihrem Puls. Kein Puls.
     Kein Atem. Nein, nein, kein Lehen mehr, hatte Sir Henry gesagt, als er Mrs
     Quigley sah.
    Doch diesmal war es anders.
     Athenaide lag wie schlafend am Boden, umgeben von blauen und weißen
     Glasscherben und einer Pfütze Pinot. Schwaches Licht spiegelte sich
     in dem zerbrochenen Kelch.
    Wo war Matthew? Wo war
     Graciela? Irgendwer?
    Dann hatte ich eine andere
     Stimme im Ohr. Der Trank, hörte ich eine Frau rufen. Der Trank! O
     lieber Hamlet - Ich bin vergiftet. Gertrude, Hamlets Mutter. Worte, in der
     warmen Sommersonne im Globe gehaucht.
    Voll Grauen setzte ich mich
     auf. In Helsingor lag die Königin auf dem mit Binsen bestreuten
     Boden, ein Weinkelch zu ihren Füßen verschüttet.
    Nein. Ich wollte es nicht
     glauben. Nicht Athenaide. Nicht jetzt.
    Ich beugte mich wieder zu
     ihr. Atme.
    Während ich auf
     Athenaides Atem lauschte, hörte ich irgendwo ein leises Knirschen und
     ein Klicken. Die Tür. Matthew war zurück. Ich wollte etwas
     sagen, doch eine düstere Vorahnung hielt mich zurück. Als
     Matthew gegangen war, hatte er die Tür nicht geschlossen. Also hatte
     ich nicht die Haupttür gehört. Und dann erinnerte ich mich an
     das Knirschen: die Tür im Kamin.
    Ich stand auf. Langsam,
     vorsichtig, um nicht auf die Glasscherben zu treten, schlich ich durch die
     Dunkelheit zur Wand. Irgendwo dort drüben gab es noch eine Tür;
     ich hatte gesehen, wie Graciela sie benutzte.
    In der Mitte des Saals
     flackerte eine Taschenlampe auf, und ich presste mich gegen die Wand.
     Athenaide lag auf dem Rücken, ihr Kostüm war verrutscht und
     voller Rotweinflecken. Etwas Weiches berührte meine Hand, und ich
    

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