Die Shakespeare-Morde
Seiner Ansicht nach gab es zu viele Übersetzungen,
und keine berief sich auf den neuesten Stand der Hebräisch- und
Griechischstudien. Der König, der sich selbst als Intellektuellen und
Poeten rühmte, wollte eine Bibel, die nicht nur korrekt, sondern auch
wohlklingend übersetzt war - geeignet, laut von der Kanzel verlesen
zu werden. Eine Bibel, die sich alle seine streitbaren Untertanen teilen
konnten.
Die Arbeit der Bischöfe
war so gut, dass sie alle Hoffnungen übertraf. Die King-James-Bibel
sollte drei Jahrhunderte lang in allen englischsprachigen Gottesdiensten
den Ton angeben. Dieser Tatsache war es auch zu verdanken, dass
Shakespeare in England und in den Kolonien bis weit ins 20. Jahrhundert so
vertraut klang - bis modernere Übersetzungen in Umlauf kamen und die
Menschen nicht mehr in die Kirche gingen. Bis dahin hatten die Kirchgänger
jeden Sonntag gesprochenes jakobäisches Englisch gehört, in
ritualisierten Lesungen, deren Tonfall und Vokabular sich tief in ihre
sprachlichen und gedanklichen Gewohnheiten eingegraben hatte. Für
Millionen von Englisch sprechenden Menschen hatte Shakespeare wie der
vertraute Sonntagsgottesdienst geklungen.
»Wie weit ist es zur
Jiménez-Ranch?«, fragte ich.
»Zwei Stunden«,
sagte Athenaide. »Aber in Arizona ist es eine Stunde früher.«
»Sagen Sie ihr, wir
sind um fünf da.«
»Die Bibel ist nicht zu
verkaufen«, warnte Athenaide.
»Wir müssen sie
nicht kaufen, Athenaide. Wir müssen sie nur sehen.«
Sie legte auf. Dann hob sie
ihr Glas und sprach einen Toast. »Vero nihil verius.«
Wir stießen an und
tranken. Ich nahm einen Stapel Bücher vom Tisch und trug ihn zum
Tresor. Matthew tat das Gleiche.
Plötzlich hörte ich
ein Husten und Würgen hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich,
dass Athenaides Gesicht blau anlief. Ihr Mund zuckte, zwei Mal, doch es
kam kein Laut heraus. Dann fiel der Kelch aus ihrer Hand, zerbrach in
tausend Scherben, und sie sank zu Boden.
Einen Augenblick später
waren wir bei ihr. Ihr Puls ging schwach, aber er war noch da. Ich wusste
nicht, ob sie atmete oder nicht.
»Ruf den Notarzt«,
sagte ich und sank in die Knie.
»Soll ich Erste Hilfe -«,
bot Matthew an.
Aber ich hatte schon
angefangen. »Geh!«, schrie ich. »Finde Graciela.«
Er zögerte einen
Augenblick, dann griff er nach Athenaides Telefon. Im gleichen Moment ging
das Licht aus.
»Bist du -«,
begann Matthew.
»Graciela!«
Er verschwand. Blind
bearbeitete ich Athenaides Brust, dann beugte ich mich zu ihr, um sie zu
beatmen. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich
pumpte, dann beatmete ich sie wieder. Atme, verdammt noch mal.
Ich hielt inne, um nach ihrem
Herzschlag zu horchen, und suchte gleichzeitig nach ihrem Puls. Kein Puls.
Kein Atem. Nein, nein, kein Lehen mehr, hatte Sir Henry gesagt, als er Mrs
Quigley sah.
Doch diesmal war es anders.
Athenaide lag wie schlafend am Boden, umgeben von blauen und weißen
Glasscherben und einer Pfütze Pinot. Schwaches Licht spiegelte sich
in dem zerbrochenen Kelch.
Wo war Matthew? Wo war
Graciela? Irgendwer?
Dann hatte ich eine andere
Stimme im Ohr. Der Trank, hörte ich eine Frau rufen. Der Trank! O
lieber Hamlet - Ich bin vergiftet. Gertrude, Hamlets Mutter. Worte, in der
warmen Sommersonne im Globe gehaucht.
Voll Grauen setzte ich mich
auf. In Helsingor lag die Königin auf dem mit Binsen bestreuten
Boden, ein Weinkelch zu ihren Füßen verschüttet.
Nein. Ich wollte es nicht
glauben. Nicht Athenaide. Nicht jetzt.
Ich beugte mich wieder zu
ihr. Atme.
Während ich auf
Athenaides Atem lauschte, hörte ich irgendwo ein leises Knirschen und
ein Klicken. Die Tür. Matthew war zurück. Ich wollte etwas
sagen, doch eine düstere Vorahnung hielt mich zurück. Als
Matthew gegangen war, hatte er die Tür nicht geschlossen. Also hatte
ich nicht die Haupttür gehört. Und dann erinnerte ich mich an
das Knirschen: die Tür im Kamin.
Ich stand auf. Langsam,
vorsichtig, um nicht auf die Glasscherben zu treten, schlich ich durch die
Dunkelheit zur Wand. Irgendwo dort drüben gab es noch eine Tür;
ich hatte gesehen, wie Graciela sie benutzte.
In der Mitte des Saals
flackerte eine Taschenlampe auf, und ich presste mich gegen die Wand.
Athenaide lag auf dem Rücken, ihr Kostüm war verrutscht und
voller Rotweinflecken. Etwas Weiches berührte meine Hand, und ich
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