Die Shakespeare-Morde
auf chiffrieren beziehen. Und falls es die
Chiffre war, die mit dem Jahr 1623 zu tun hatte, dann musste das Buch
nicht von 1623 sein - nicht unbedingt. Das fragliche Buch musste keine
First Folio Edition sein.
»Gibt es eine Chiffre
aus dem Jahr 1623?«, fragte Matthew, der mir über die Schulter
sah.
»In dem Jahr hat Bacon
sein ›De dignitate et augmentis scientiarum‹ veröffentlicht.
Die lateinische Ausgabe von ›Über die Würde und den
Fortgang der Wissenschaftern.«
Matthews Augen wurden groß.
»Bacons Chiffre«, sagte er.
»Sir Francis Bacon?«,
fragte Athenaide scharf.
Ich nickte. Derselbe Francis
Bacon, den Delia und andere so gerne als den Mann hinter Shakespeares
Maske gesehen hätten - derselbe Mann, den ich als den Keiler der
Schimäre identifiziert hatte. Im ›Fortgang der Wissenschaftern
entwarf er ein System zur Klassifizierung, dem Studium und der
Beherrschung des gesamten menschlichen Wissens. Und in der lateinischen
Ausgabe von 1623, die länger war als das Original, präsentierte
er einen ganzen Abschnitt über Chiffren und Codes - zu denén
auch eine Chiffre gehörte, die Bacon selbst erfunden hatte.
Meine Stimme überschlug
sich. »Hatte Granville eine Ausgabe des »Fortgangs der
Wissenschaftern?«
»Nein«, sagte
Athenaide bestimmt.
»Oder sonst etwas von
Bacon?«
»Nur die Essays.«
Wieder ging sie an den Tresor und nahm ein dünneres Buch heraus. Ich
blätterte es hastig durch. Um Bacons Chiffre in einem gedruckten Buch
zu verwenden, musste Jem einzelne Buchstaben gekennzeichnet haben. Er
musste in das Buch hineingeschrieben haben.
Doch in den Essays gab es
keine Markierungen.
Ich kreiste um den Tisch.
»Besaß er sonst irgendetwas aus der Renaissance?«
»Kommen Sie und schauen
Sie selbst.« Athenaide holte stapelweise Bücher aus dem Tresor,
die wir zum Tisch trugen und systematisch durchblätterten. Jem
Granville war ein Windhund und ein Halunke gewesen, doch gleichzeitig war
er höchst belesen für seine Zeit. Seine Sammlung enthielt Bände
von Tennyson und Browning, Dickens und Trollope, Darwin, Mill und
Macaulay. Allerdings nichts aus der Renaissance. Oder sonst etwas, das bis
auf seinen Namen auf den Titelblättern irgendeine auffällige
Markierung aufwies. Anders als Ros hatte Jem Granville nicht die
Angewohnheit, in seine Bücher hineinzukritzeln.
Als wir Walter Paters
›Die Renaissance‹ aufschlugen, schöpfte ich Hoffnung,
doch auch dieses Buch war sauber. »Es muss noch etwas da gewesen
sein«, sagte ich frustriert, als ich die letzte Seite erreichte. Ich
sah Athenaide an. »Haben Sie wirklich alle seine Bücher
gekauft?«
»Alle, von denen Mrs
Jiménez wusste, dass sie Granville gehörten.«
Was, wenn er das fragliche
Buch nicht signiert hatte? Was, wenn es jemand verloren hatte? Verschenkt?
Zerlesen oder der Kirche gestiftet, auf dem Flohmarkt verkauft? Es
konnte überall sein. Ich beugte mich über den Tisch. »Fragen
Sie sie.«
»Es ist vier Uhr
morgens, Katharine … Drüben in Arizona ist es drei.«
»Die Leute sind
Rancher. Sie sind bestimmt schon auf den Beinen. Oder so gut wie.«
Athenaide kramte ihr Handy
aus der Tasche. Sie trank einen großen Schluck Wein, dann wählte
sie. Jemand antwortete. »Ja … nein.« Athenaides Augen
leuchteten. »Einen Moment…« Sie hielt den Hörer zu
und sagte: »Ein Buch. Die Familienbibel.«
Das Blut in meinen Adern
begann zu rauschen. »Welche Bibel?«
»Sie weiß es
nicht. Eine alte.«
»Sagen Sie ihr, sie
soll nachsehen.«
Während Mrs Jiménez
auf der Ranch in Arizona nachsehen ging, stützte ich mich mit
angehaltenem Atem auf den Tisch und blickte hinauf zu Ophelias blinden
Augen über dem Kamin.
»Die Titelseite«,
sagte Athenaide, »da steht: ›Gedruckt im Jahre des Herrn 1611
und weithin bekannt als die King-James-Bibel‹.«
Ich musste mich am Tisch
festhalten, um nicht umzukippen.
Matthews Augen leuchteten.
»Das jakobäische Magnum opus.«
Das war es. Das musste es
sein. Buchstäblich, denn King James war Jakob I. Und ein altes
Sprichwort besagte, dass die King-James-Bibel das einzige Meisterwerk sei,
das von einem Komitee verfasst worden war. Als eine seiner ersten
Amtshandlungen nach der Thronbesteigung hatte König Jakob seine Bischöfe
beauftragt, etwas gegen den vom ihm beklagten erbärmlichen Zustand
der englischen Bibel zu tun.
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