Die Shakespeare-Morde
Höhle saß
Sir Henry. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und hatte die Beine
parallel zum Abgrund ausgestreckt. Neben ihm lag die geöffnete
Satteltasche. In einer Hand hielt er ein Blatt, in der anderen die
Pistole. Sein Kopf war nach hinten gegen die Wand gerutscht. Er sah aus,
als würde er schlafen. Ich griff nach dem Messer. Sollte ich
versuchen, ihn zu überwältigen? Ihm die Waffe abzunehmen?
Irgendwie musste ich an den Rand der Höhle kommen, damit der
Peilsender sein Signal senden konnte.
»Du enttäuschst
mich«, sagte Sir Henry mit seiner tiefen, samtigen Stimme.
Ich wich in den Spalt zurück.
Falls er vor hatte, mich hier im Tunnel zu erschießen, hätte
ich keine Deckung. Dann müsste ich ihn angreifen.
Ich lauschte gespannt.
Doch Sir Henry hatte sich
nicht gerührt. »Es gibt so wenig Tode, die etwas zu bedeuten
haben«, sinnierte er. »Dir wird das unbezahlbare Geschenk
eines Shakespeare-Tods gemacht… eines der größten
Shakespeare-Tode … und du wirfst ihn einfach weg. Julia, meine
Liebe. Du hast Julia verleugnet.«
Ich hörte immer noch
keine Bewegung. Vorsichtig spähte ich um die Ecke. Er hatte sich
nicht bewegt, doch seine Augen waren offen.
»Ich weiß, dass
du da bist, Schätzchen. Wenn du schon so profan bist, mach dich
wenigstens nützlich.« Er hielt das Blatt hoch, das er in der
Hand hielt. »Ein Brief. Von Will an Will… So ward dir dein
Will’, Will obendrein, und Will im Überfluss … Aber
diese jakobäische Handschrift ist übel. Von dem, was dazwischen
steht, kann ich keine Zeile entziffern.«
Ein Brief! Ich hatte ihn
übersehen.
»Ich kann die Schrift
lesen«, sagte ich. Ich musste an den Rand der Höhle, wo das
Signal vielleicht geortet werden konnte.
»Messer oder Spritze?«,
fragte er. »Eins davon wirst du dabeihaben. Wahrscheinlich das
Messer.«
Verdammt.
»Lass es liegen und
komm mit geöffneten Händen her.« Sir Henry hob die Brauen
und hielt mir den Brief hin.
Zwischen Neugier und Vorsicht
schwankend, legte ich das Messer nieder und kletterte durch den Spalt. Die
Hitze, die draußen auf die Felswand brannte, durchflutete mich.
Gleichzeitig stieg mir der metallische Geruch von Wüstenregen in die
Nase, und ich hörte ein Rauschen in der Ferne. Ich ging an den Rand
der Höhle, hielt mich gegenüber von Sir Henry an der Felswand
fest und sah hinunter. Fünfzig Meter unter mir war der sandige Grund
des Canyons unter weißer Gischt verschwunden. Ein Sturzbach brandete
von Felswand zu Felswand und riss Bäume und Treibgut mit sich. Mein
Mut sank. Der Canyon war unpassierbar. Es konnte Tage dauern, bis der
Sturzbach versiegte.
Gegenüber hatte die spätsommerliche
Sonne die Klippen in rosa Licht getaucht. Links über den Bergen
verdichteten sich silberne Regenstreifen zu bleiernem Grau. Darüber türmten
sich Gewitterwolken, die weit aus meinem Gesichtsfeld hinausragten. Bei
uns regnete es noch nicht, doch der Sturm war im Anzug. Die Luft roch
feucht und metallisch, und kühle Windstöße fegten bereits
in die Höhle. Die Sommergewitter über den Dragoons hatten in
diesem Jahr früh angefangen.
»Da oben regnet es
schon seit heute Morgen«, sagte Sir Henry. »Wie du siehst, ist
der Eingang, durch den wir gekommen sind, überflutet. Dort kämen
wir nicht mehr raus, selbst wenn Matthew den Weg nicht so ungeschickt
verschüttet hätte. Das Loch steht unter Wasser, und ich schätze,
auch der erste Teil des Tunnels.« Er klopfte neben sich auf den
Boden. »Komm zu mir, Liebes. Ich will Zusehen, wie du mir Wort für
Wort vorliest. Und wenn ich das Gefühl habe, du lässt eins aus,
erschieße ich dich.«
Ich musste mich neben Sir
Henry an die Wand setzen, ein, zwei Meter vom Höhlenrand entfernt. Würde
der Peilsender sein Signal von hier senden? Die Brosche hing schwer an
ihrer Kette.
Der Brief war in der gleichen
engen Handschrift verfasst, die ich bereits von der Folio in Valladolid
kannte und von dem Brief aus Wilton House. Es war der Graf von Derby, der
an Will Shelton schrieb. Wort für Wort las ich stockend vor, während
Sir Henry mich mit scharfen Fragen löcherte: Welcher Buchstabe war
das, welches Wort dies?
Der Brief war eine
Entschuldigung für das Schweigen, und eine Erklärung.
Die einzige Gabe, die ich
Euch zu geben vermag … eine Geschichte auß Eurer Feder, wenn
nicht gar auß Eurer Schöpfung, emporgehoben
Weitere Kostenlose Bücher