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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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Höhle saß
     Sir Henry. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und hatte die Beine
     parallel zum Abgrund ausgestreckt. Neben ihm lag die geöffnete
     Satteltasche. In einer Hand hielt er ein Blatt, in der anderen die
     Pistole. Sein Kopf war nach hinten gegen die Wand gerutscht. Er sah aus,
     als würde er schlafen. Ich griff nach dem Messer. Sollte ich
     versuchen, ihn zu überwältigen? Ihm die Waffe abzunehmen?
     Irgendwie musste ich an den Rand der Höhle kommen, damit der
     Peilsender sein Signal senden konnte.
    »Du enttäuschst
     mich«, sagte Sir Henry mit seiner tiefen, samtigen Stimme.
    Ich wich in den Spalt zurück.
     Falls er vor hatte, mich hier im Tunnel zu erschießen, hätte
     ich keine Deckung. Dann müsste ich ihn angreifen.
    Ich lauschte gespannt.
    Doch Sir Henry hatte sich
     nicht gerührt. »Es gibt so wenig Tode, die etwas zu bedeuten
     haben«, sinnierte er. »Dir wird das unbezahlbare Geschenk
     eines Shakespeare-Tods gemacht… eines der größten
     Shakespeare-Tode … und du wirfst ihn einfach weg. Julia, meine
     Liebe. Du hast Julia verleugnet.«
    Ich hörte immer noch
     keine Bewegung. Vorsichtig spähte ich um die Ecke. Er hatte sich
     nicht bewegt, doch seine Augen waren offen.
    »Ich weiß, dass
     du da bist, Schätzchen. Wenn du schon so profan bist, mach dich
     wenigstens nützlich.« Er hielt das Blatt hoch, das er in der
     Hand hielt. »Ein Brief. Von Will an Will… So ward dir dein
     Will’, Will obendrein, und Will im Überfluss … Aber
     diese jakobäische Handschrift ist übel. Von dem, was dazwischen
     steht, kann ich keine Zeile entziffern.«
    Ein Brief! Ich hatte ihn
     übersehen.
    »Ich kann die Schrift
     lesen«, sagte ich. Ich musste an den Rand der Höhle, wo das
     Signal vielleicht geortet werden konnte.
    »Messer oder Spritze?«,
     fragte er. »Eins davon wirst du dabeihaben. Wahrscheinlich das
     Messer.«
    Verdammt.
    »Lass es liegen und
     komm mit geöffneten Händen her.« Sir Henry hob die Brauen
     und hielt mir den Brief hin.
    Zwischen Neugier und Vorsicht
     schwankend, legte ich das Messer nieder und kletterte durch den Spalt. Die
     Hitze, die draußen auf die Felswand brannte, durchflutete mich.
     Gleichzeitig stieg mir der metallische Geruch von Wüstenregen in die
     Nase, und ich hörte ein Rauschen in der Ferne. Ich ging an den Rand
     der Höhle, hielt mich gegenüber von Sir Henry an der Felswand
     fest und sah hinunter. Fünfzig Meter unter mir war der sandige Grund
     des Canyons unter weißer Gischt verschwunden. Ein Sturzbach brandete
     von Felswand zu Felswand und riss Bäume und Treibgut mit sich. Mein
     Mut sank. Der Canyon war unpassierbar. Es konnte Tage dauern, bis der
     Sturzbach versiegte.
    Gegenüber hatte die spätsommerliche
     Sonne die Klippen in rosa Licht getaucht. Links über den Bergen
     verdichteten sich silberne Regenstreifen zu bleiernem Grau. Darüber türmten
     sich Gewitterwolken, die weit aus meinem Gesichtsfeld hinausragten. Bei
     uns regnete es noch nicht, doch der Sturm war im Anzug. Die Luft roch
     feucht und metallisch, und kühle Windstöße fegten bereits
     in die Höhle. Die Sommergewitter über den Dragoons hatten in
     diesem Jahr früh angefangen.
    »Da oben regnet es
     schon seit heute Morgen«, sagte Sir Henry. »Wie du siehst, ist
     der Eingang, durch den wir gekommen sind, überflutet. Dort kämen
     wir nicht mehr raus, selbst wenn Matthew den Weg nicht so ungeschickt
     verschüttet hätte. Das Loch steht unter Wasser, und ich schätze,
     auch der erste Teil des Tunnels.« Er klopfte neben sich auf den
     Boden. »Komm zu mir, Liebes. Ich will Zusehen, wie du mir Wort für
     Wort vorliest. Und wenn ich das Gefühl habe, du lässt eins aus,
     erschieße ich dich.«
    Ich musste mich neben Sir
     Henry an die Wand setzen, ein, zwei Meter vom Höhlenrand entfernt. Würde
     der Peilsender sein Signal von hier senden? Die Brosche hing schwer an
     ihrer Kette.
    Der Brief war in der gleichen
     engen Handschrift verfasst, die ich bereits von der Folio in Valladolid
     kannte und von dem Brief aus Wilton House. Es war der Graf von Derby, der
     an Will Shelton schrieb. Wort für Wort las ich stockend vor, während
     Sir Henry mich mit scharfen Fragen löcherte: Welcher Buchstabe war
     das, welches Wort dies?
    Der Brief war eine
     Entschuldigung für das Schweigen, und eine Erklärung.
     
    Die einzige Gabe, die ich
     Euch zu geben vermag … eine Geschichte auß Eurer Feder, wenn
     nicht gar auß Eurer Schöpfung, emporgehoben

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