Die Shakespeare-Morde
Wahrheit fürchtet.«
Sir Henry stürzte sich
auf das Buch, das ich hielt. Ich wich aus, doch er hechtete hinter mir
her. Diesmal bekam er mich zu fassen und drückte mich gegen die
Felswand. »Schlichte Kate, die lust’ge Kate, oder auch die böse
Kate.«
Sein Flüstern ließ
keinen Zweifel. Ein amerikanischer Akzent. Sir Henry war der Mann in der
Bibliothek gewesen.
Du vergisst eins, meine
Liebe. Ich bin Schauspieler, hatte er gesagt.
Matthew hatte behauptet, dass
er es war. Doch Matthew hatte gelogen. Er hatte zwar vorgehabt, mich wie
Lavinia zu schänden, doch die Drohung war Sir Henrys Idee gewesen -
das Skript stammte von ihm. Mit einem Schrei wand ich mich los und stieß
ihn ins Innere der Höhle. Kaum hatte er das Gleichgewicht wieder, stürzte
er sich erneut auf mich. Ich duckte mich.
Unfähig, seinen Schwung
abzufangen, stolperte Sir Henry und rutschte über den Höhlenrand.
Ich lief hinterher und sah
über die Kante.
Er hielt sich mit beiden Händen
an einem Felsvorsprung fest. Mit einem Fuß hatte er in einer
schmalen Ritze Halt gefunden, mit dem anderen suchte er die bröckelnde
Wand ab. Ich verkeilte den Fuß in einem Spalt in der Höhle,
dann packte ich Sir Henrys Handgelenk, erst mit einer Hand, dann mit
beiden. Einen Moment lang dachte ich, er würde mich mit in den
Abgrund reißen. Sein Blick verriet mir, dass er nahe daran war.
Dann hörten wir den
Helikopter.
»Die Polizei«,
sagte ich. »Egal was mit uns passiert, Sir Henry, sie werden das Stück
finden. Und den Brief.«
In diesem Augenblick schien
er innerlich aufzugeben. Langsam, mit seiner Hilfe, zog ich ihn über
die Kante in Sicherheit.
»Es tut mir leid, Kate«,
keuchte er. »Es tut mir leid. Ich habe dir nie wehtun wollen. Aber
du bist einfach nicht aus dem Weg gegangen.«
»Spar dir die Worte«,
antwortete ich kühl. »Du wanderst für lange Zeit ins Gefängnis.«
»Rache im modernen
Gewand«, sagte er. »Du bist Hamlet geworden, Kate. Merkst du
es?«
In seiner Stimme schwang
herbe Bewunderung mit, doch ich konnte nur an den Berg von Leichen denken,
die sich auf der Bühne stapelten. »Und wer bist du?«
Ein Blitz zerriss den Himmel
in ein feines Netz von blauem Licht. Dann rollte der Donner durch den
Canyon, und der Sturzbach unter uns stieg weiter an. Erdreich und Baumstämme
schossen mit der Gischt bis zu uns herauf. Das rhythmische Knattern des
Hubschraubers kam näher.
Sir Henry stemmte sich auf
die Füße. Er warf den Kopf zurück und übertönte
den Wind mit seiner großartigen Stimme:
Am Mittag ich
Die Sonn’ umhüllt,
aufrühr’sche Wind’ entboten,
Die grüne See mit der
azurnen Wölbung
In lauten Kampf gesetzt.
Vor meinen Augen verwandelte
er sich in Prospero, den Zauberer, der die Stürme ruft und die Räder
der Gerechtigkeit in Gang setzt. Langsam, majestätisch, hob er den
Arm und zeigte auf mich.
Grüft’, auf
mein Geheiß,
Erweckten ihre Toten,
sprangen auf
Und ließen sie
heraus, durch meine Kunst.
»Grüfte haben sich
auf dein Geheiß gefüllt, Sir Henry«, schrie, ich zurück.
»Und lassen sie nicht mehr heraus. Sechs Tote. Sieben, wenn Ben
stirbt.«
Doch dieses grause Zaubern
Schwör’ ich
hier ab …
Auf der anderen Seite des
Canyons knatterte der Helikopter in unser Sichtfeld. Das Schwirren der
Rotorblätter wurde von den Klippen zurückgeworfen. Als er näher
kam, spritzten Wasser und Staub in die Höhle. In der offenen Tür
des Helikopters standen Sinclair und Mr Jiménez, der auf uns
zeigte.
Mit einem Griff hatte Sir
Henry die Satteltasche gepackt und mit ihr den Brief, der vielleicht
bewies, wer Shakespeare wirklich war. Ich riss das Buch mit dem Manuskript
aus seiner Reichweite und presste es an meine Brust, doch Sir Henry gab
sich keine Mühe, es mir abzunehmen. Seine Worte galten mir - die
Worte des Vaters, der seine Tochter um Verzeihung bat. Die Vorführung
war zu Ende; dies war seine Entschuldigung.
So brech ich meinen Stab,
Begrab’ ihn manche
Klafter in die Erde,
Und tiefer, als ein
Senkblei je geforscht,
Will ich mein Buch ertränken.
Zu spät begriff ich, was
er vorhatte, doch er stand bereits am Klippenrand.
»Vergiss mich nicht«,
sagte er. Dann lehnte er sich zurück und fiel, Ikarus, der unter der
Sonne fällt, die Arme ausgestreckt wie geschmolzene Flügel, und
blickte mit einem seligen
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