Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
Vom Netzwerk:
Wahrheit fürchtet.«
    Sir Henry stürzte sich
     auf das Buch, das ich hielt. Ich wich aus, doch er hechtete hinter mir
     her. Diesmal bekam er mich zu fassen und drückte mich gegen die
     Felswand. »Schlichte Kate, die lust’ge Kate, oder auch die böse
     Kate.«
    Sein Flüstern ließ
     keinen Zweifel. Ein amerikanischer Akzent. Sir Henry war der Mann in der
     Bibliothek gewesen.
    Du vergisst eins, meine
     Liebe. Ich bin Schauspieler, hatte er gesagt.
    Matthew hatte behauptet, dass
     er es war. Doch Matthew hatte gelogen. Er hatte zwar vorgehabt, mich wie
     Lavinia zu schänden, doch die Drohung war Sir Henrys Idee gewesen -
     das Skript stammte von ihm. Mit einem Schrei wand ich mich los und stieß
     ihn ins Innere der Höhle. Kaum hatte er das Gleichgewicht wieder, stürzte
     er sich erneut auf mich. Ich duckte mich.
    Unfähig, seinen Schwung
     abzufangen, stolperte Sir Henry und rutschte über den Höhlenrand.
    Ich lief hinterher und sah
     über die Kante.
    Er hielt sich mit beiden Händen
     an einem Felsvorsprung fest. Mit einem Fuß hatte er in einer
     schmalen Ritze Halt gefunden, mit dem anderen suchte er die bröckelnde
     Wand ab. Ich verkeilte den Fuß in einem Spalt in der Höhle,
     dann packte ich Sir Henrys Handgelenk, erst mit einer Hand, dann mit
     beiden. Einen Moment lang dachte ich, er würde mich mit in den
     Abgrund reißen. Sein Blick verriet mir, dass er nahe daran war.
    Dann hörten wir den
     Helikopter.
    »Die Polizei«,
     sagte ich. »Egal was mit uns passiert, Sir Henry, sie werden das Stück
     finden. Und den Brief.«
    In diesem Augenblick schien
     er innerlich aufzugeben. Langsam, mit seiner Hilfe, zog ich ihn über
     die Kante in Sicherheit.
    »Es tut mir leid, Kate«,
     keuchte er. »Es tut mir leid. Ich habe dir nie wehtun wollen. Aber
     du bist einfach nicht aus dem Weg gegangen.«
    »Spar dir die Worte«,
     antwortete ich kühl. »Du wanderst für lange Zeit ins Gefängnis.«
    »Rache im modernen
     Gewand«, sagte er. »Du bist Hamlet geworden, Kate. Merkst du
     es?«
    In seiner Stimme schwang
     herbe Bewunderung mit, doch ich konnte nur an den Berg von Leichen denken,
     die sich auf der Bühne stapelten. »Und wer bist du?«
    Ein Blitz zerriss den Himmel
     in ein feines Netz von blauem Licht. Dann rollte der Donner durch den
     Canyon, und der Sturzbach unter uns stieg weiter an. Erdreich und Baumstämme
     schossen mit der Gischt bis zu uns herauf. Das rhythmische Knattern des
     Hubschraubers kam näher.
    Sir Henry stemmte sich auf
     die Füße. Er warf den Kopf zurück und übertönte
     den Wind mit seiner großartigen Stimme:
     
    Am Mittag ich
    Die Sonn’ umhüllt,
     aufrühr’sche Wind’ entboten,
    Die grüne See mit der
     azurnen Wölbung
    In lauten Kampf gesetzt.
     
    Vor meinen Augen verwandelte
     er sich in Prospero, den Zauberer, der die Stürme ruft und die Räder
     der Gerechtigkeit in Gang setzt. Langsam, majestätisch, hob er den
     Arm und zeigte auf mich.
     
    Grüft’, auf
     mein Geheiß,
    Erweckten ihre Toten,
     sprangen auf
    Und ließen sie
     heraus, durch meine Kunst.
     
    »Grüfte haben sich
     auf dein Geheiß gefüllt, Sir Henry«, schrie, ich zurück.
     »Und lassen sie nicht mehr heraus. Sechs Tote. Sieben, wenn Ben
     stirbt.«
     
    Doch dieses grause Zaubern
    Schwör’ ich
     hier ab …
     
    Auf der anderen Seite des
     Canyons knatterte der Helikopter in unser Sichtfeld. Das Schwirren der
     Rotorblätter wurde von den Klippen zurückgeworfen. Als er näher
     kam, spritzten Wasser und Staub in die Höhle. In der offenen Tür
     des Helikopters standen Sinclair und Mr Jiménez, der auf uns
     zeigte.
    Mit einem Griff hatte Sir
     Henry die Satteltasche gepackt und mit ihr den Brief, der vielleicht
     bewies, wer Shakespeare wirklich war. Ich riss das Buch mit dem Manuskript
     aus seiner Reichweite und presste es an meine Brust, doch Sir Henry gab
     sich keine Mühe, es mir abzunehmen. Seine Worte galten mir - die
     Worte des Vaters, der seine Tochter um Verzeihung bat. Die Vorführung
     war zu Ende; dies war seine Entschuldigung. 
     
    So brech ich meinen Stab,
    Begrab’ ihn manche
     Klafter in die Erde,
    Und tiefer, als ein
     Senkblei je geforscht,
    Will ich mein Buch ertränken.
     
    Zu spät begriff ich, was
     er vorhatte, doch er stand bereits am Klippenrand.
    »Vergiss mich nicht«,
     sagte er. Dann lehnte er sich zurück und fiel, Ikarus, der unter der
     Sonne fällt, die Arme ausgestreckt wie geschmolzene Flügel, und
     blickte mit einem seligen

Weitere Kostenlose Bücher