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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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Nur das Stück hält dich davon
     ab, mich zu töten.«
    »Komm zurück, und
     wir verhandeln«, flehte er. »Du führst die Regie, und ich
     bin Quixote.«
    »Und du glaubst, Ben wäre
     einverstanden?«
    Er schwieg.
    »Ich verstehe. Ben ist
     der Kompromiss, den ich machen soll. Du verzichtest darauf, mich zu töten,
     und ich verzichte darauf, ihn zu retten. Und wir teilen uns das Stück.«    
    »Er stirbt sowieso,
     Kate.«
    Endlich riss die Kette, und
     die Brosche lag lose in meiner Hand. Ich drückte sie in einen kleinen
     Felsspalt. Das Sims, auf dem ich stand, begann zu bröckeln. Ein paar
     Steinbrocken lösten sich und stürzten in den Abgrund. Ich verlor
     das Gleichgewicht, doch ich konnte mich gerade noch halten. Zwischen dem
     Vorsprung und der Felswand hatte sich ein Spalt aufgetan.      
    »Kate. Komm zurück.«
    »Wirf die Waffe weg.«
    Er zögerte. Ein weiterer
     Brocken löste sich aus dem Sims. Dann flog die Pistole in den Canyon
     hinaus und verschwand in hohem Bogen im brandenden Wasser.
    Die Felswand gab ein Stöhnen
     von sich. Vorsichtig begann ich mich zum Höhleneingang zurückzuarbeiten.
    »Spring«, rief
     Sir Henry. Und dann sprang ich, während der Fels unter mir nachgab,
     mit einem Brüllen hinabstürzte und meterhoch weiße Gischt
     aufspritzte.
    Keuchend lag ich mit dem
     Manuskript am Höhlenrand. Sir Henry kam auf mich zu.
    »Bleib weg von mir.«
    Er blieb stehen.
    »Lass die Satteltasche
     los und schieb sie in den hinteren Teil der Höhle.« Ich wollte
     nicht, dass er wegen des ungelesenen Briefs, der gefaltet in der Tasche
     steckte, auf irgendwelche Ideen kam.
    Sir Henry ließ die
     Tasche fallen, doch er ließ sie liegen, wo sie war. Dann ging er auf
     die andere Seite der Höhle. »Hast du irgendeine Ahnung, was du
     da tust?«
    Ich zog den ›Don
     Quixote‹ zu mir heran und schob das Manuskript hinein. »Warum
     ist es so wichtig, wer Shakespeare war? Warum fürchtest du dich vor
     der Wahrheit?«
    Sir Henry lehnte sich an die
     Wand und setzte sich wieder. Er vergrub sein Gesicht in den Händen.
     »›Was ist Wahrheit?‹, fragte Pilatus spöttisch
     und wartete die Antwort nicht ab. Bacons Worte.« Er hob den Kopf.
     »Ich fürchte die Wahrheit nicht, Kate. Ich fürchte die
     Fakten. Die Tyrannei kleinlicher Fakten. Die Wahrheit ist eine
     Idealvorstellung. Nicht das, was tatsächlich war oder ist. Als
     Regisseurin, als Geschichtenerzählerin solltest du das wissen.«
    Seine Stimme wurde weicher,
     verführerischer.
    »Egal was in
     irgendwelchen schimmligen alten Briefen steht, die Wahrheit ist,
     Shakespeare war ein Jedermann, ein Mann des Volkes. Kein Graf oder Ritter,
     keine Gräfin oder Königin, und um Gottes willen keine verdammte
     Bürogemeinschaft. Warum passt es so vielen Menschen nicht, dass ein
     Junge aus dem Nichts und Nirgendwo etwas Großes schaffen kann, etwas
     ganz Großes? Ich habe es schließlich auch geschafft - bin vom
     Niemand zum großen Bühnenritter aufgestiegen. Warum durfte
     Shakespeare aus Stratford nicht unsterblich werden?«
    »Es sind die Stücke,
     die zählen, Sir Henry. Nicht ihre Herkunft.«
    »Da irrst du dich,
     Kate. Wie für euch Amerikaner das Märchen von Abraham Lincoln,
     der in einer Blockhütte das Licht der Welt erblickte, ist die
     Geschichte vom Jungen aus Stratford für mich lebenswichtig: Genie
     kann überall zuschlagen. Jeder kann etwas Großes werden.
     Shakespeare hat mir geholfen, aus der Gosse zu kommen, und ich habe ihm
     mein Leben gewidmet. Das Gleiche kann er für andere tun. Zumindest
     habe ich das immer geglaubt. Daraus habe ich die Kraft für meine Rückkehr
     zur Bühne gezogen … Wenn ich Hamlets Vater gespielt habe,
     Prospero und Lear und Leontes, dann ist Shakespeares Erbe für die nächste
     Generation gesichert. Falls die Buchhalter kleinlicher Fakten mir das
     zugestehen wollen.«
    »Du verwechselst
     Shakespeares Erbe mit deinem eigenen.«
    Er sah mich vorwurfsvoll an.
     »Ich dachte, du würdest es verstehen.«
    »Du dachtest, ich wäre
     einverstanden?« Mit dem Buch in der Hand sprang ich auf. »Du
     dachtest, Shakespeare wäre einverstanden?«, schrie ich
     aufgebracht. »Shakespeare, egal wer er war, würde es gutheißen,
     dass du in seinem Namen getötet hast?« Doch so schnell mein
     Zorn aufgeflammt war, verwandelte er sich in Eiseskälte. »Langsam
     fange ich an zu verstehen, Sir Henry. Ich verstehe, dass du ein Mörder
     bist und ein Feigling, der sich vor der

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