Die Shakespeare-Morde
Nur das Stück hält dich davon
ab, mich zu töten.«
»Komm zurück, und
wir verhandeln«, flehte er. »Du führst die Regie, und ich
bin Quixote.«
»Und du glaubst, Ben wäre
einverstanden?«
Er schwieg.
»Ich verstehe. Ben ist
der Kompromiss, den ich machen soll. Du verzichtest darauf, mich zu töten,
und ich verzichte darauf, ihn zu retten. Und wir teilen uns das Stück.«
»Er stirbt sowieso,
Kate.«
Endlich riss die Kette, und
die Brosche lag lose in meiner Hand. Ich drückte sie in einen kleinen
Felsspalt. Das Sims, auf dem ich stand, begann zu bröckeln. Ein paar
Steinbrocken lösten sich und stürzten in den Abgrund. Ich verlor
das Gleichgewicht, doch ich konnte mich gerade noch halten. Zwischen dem
Vorsprung und der Felswand hatte sich ein Spalt aufgetan.
»Kate. Komm zurück.«
»Wirf die Waffe weg.«
Er zögerte. Ein weiterer
Brocken löste sich aus dem Sims. Dann flog die Pistole in den Canyon
hinaus und verschwand in hohem Bogen im brandenden Wasser.
Die Felswand gab ein Stöhnen
von sich. Vorsichtig begann ich mich zum Höhleneingang zurückzuarbeiten.
»Spring«, rief
Sir Henry. Und dann sprang ich, während der Fels unter mir nachgab,
mit einem Brüllen hinabstürzte und meterhoch weiße Gischt
aufspritzte.
Keuchend lag ich mit dem
Manuskript am Höhlenrand. Sir Henry kam auf mich zu.
»Bleib weg von mir.«
Er blieb stehen.
»Lass die Satteltasche
los und schieb sie in den hinteren Teil der Höhle.« Ich wollte
nicht, dass er wegen des ungelesenen Briefs, der gefaltet in der Tasche
steckte, auf irgendwelche Ideen kam.
Sir Henry ließ die
Tasche fallen, doch er ließ sie liegen, wo sie war. Dann ging er auf
die andere Seite der Höhle. »Hast du irgendeine Ahnung, was du
da tust?«
Ich zog den ›Don
Quixote‹ zu mir heran und schob das Manuskript hinein. »Warum
ist es so wichtig, wer Shakespeare war? Warum fürchtest du dich vor
der Wahrheit?«
Sir Henry lehnte sich an die
Wand und setzte sich wieder. Er vergrub sein Gesicht in den Händen.
»›Was ist Wahrheit?‹, fragte Pilatus spöttisch
und wartete die Antwort nicht ab. Bacons Worte.« Er hob den Kopf.
»Ich fürchte die Wahrheit nicht, Kate. Ich fürchte die
Fakten. Die Tyrannei kleinlicher Fakten. Die Wahrheit ist eine
Idealvorstellung. Nicht das, was tatsächlich war oder ist. Als
Regisseurin, als Geschichtenerzählerin solltest du das wissen.«
Seine Stimme wurde weicher,
verführerischer.
»Egal was in
irgendwelchen schimmligen alten Briefen steht, die Wahrheit ist,
Shakespeare war ein Jedermann, ein Mann des Volkes. Kein Graf oder Ritter,
keine Gräfin oder Königin, und um Gottes willen keine verdammte
Bürogemeinschaft. Warum passt es so vielen Menschen nicht, dass ein
Junge aus dem Nichts und Nirgendwo etwas Großes schaffen kann, etwas
ganz Großes? Ich habe es schließlich auch geschafft - bin vom
Niemand zum großen Bühnenritter aufgestiegen. Warum durfte
Shakespeare aus Stratford nicht unsterblich werden?«
»Es sind die Stücke,
die zählen, Sir Henry. Nicht ihre Herkunft.«
»Da irrst du dich,
Kate. Wie für euch Amerikaner das Märchen von Abraham Lincoln,
der in einer Blockhütte das Licht der Welt erblickte, ist die
Geschichte vom Jungen aus Stratford für mich lebenswichtig: Genie
kann überall zuschlagen. Jeder kann etwas Großes werden.
Shakespeare hat mir geholfen, aus der Gosse zu kommen, und ich habe ihm
mein Leben gewidmet. Das Gleiche kann er für andere tun. Zumindest
habe ich das immer geglaubt. Daraus habe ich die Kraft für meine Rückkehr
zur Bühne gezogen … Wenn ich Hamlets Vater gespielt habe,
Prospero und Lear und Leontes, dann ist Shakespeares Erbe für die nächste
Generation gesichert. Falls die Buchhalter kleinlicher Fakten mir das
zugestehen wollen.«
»Du verwechselst
Shakespeares Erbe mit deinem eigenen.«
Er sah mich vorwurfsvoll an.
»Ich dachte, du würdest es verstehen.«
»Du dachtest, ich wäre
einverstanden?« Mit dem Buch in der Hand sprang ich auf. »Du
dachtest, Shakespeare wäre einverstanden?«, schrie ich
aufgebracht. »Shakespeare, egal wer er war, würde es gutheißen,
dass du in seinem Namen getötet hast?« Doch so schnell mein
Zorn aufgeflammt war, verwandelte er sich in Eiseskälte. »Langsam
fange ich an zu verstehen, Sir Henry. Ich verstehe, dass du ein Mörder
bist und ein Feigling, der sich vor der
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