Die Shakespeare-Morde
schrecklich eingebildet, aber ungefähr das Gleiche
hat Sir Henry auch zu mir gesagt.«
Ben sah mir in die Augen.
»Sie nannte dich ihr goldenes Mädchen. Unter anderem.«
Ich beugte mich vor. »Hast
du dich je gefragt, welche Rolle in den Sonetten sie dir zugestand?«
»Das war nicht nötig.
Sie hat mir die dunkle Dame angeboten«, sagte er mit einem
ironischen Grinsen. »Wobei ich die Rolle ganz und gar nicht weiblich
spielen müsse, wie sie mir versicherte. Die Rolle des
Spielverderbers. Des Störenfrieds. Ziemlich passend für einen
Soldaten.«
Ich lachte. »Was hast
du geantwortet?«
Er trank einen Schluck.
»Ich sagte ihr, ich bin kein Schauspieler und ich würde mich
auch nicht an ein fremdes Skript halten.«
»Und sie antwortete:
›Nicht mal an Shakespeares?‹«
Er stutzte. »Sie hat
dir davon erzählt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich habe einmal das Gleiche zu ihr gesagt. Und das hat sie
erwidert.«
Er lachte. »Und was war
deine Antwort?«
»Ich sagte ihr, dass
ich lieber meine eigene Geschichte schreiben wollte. Wahrscheinlich wäre
sie nicht so schön, aber sie würde mir gehören.«
»Und, wie entwickelt
sie sich?«
»Das weiß ich
noch nicht genau. Aber wenn ich sogar Shakespeares Weg ausschlage, werde
ich erst recht nicht dem von Ophelia oder Delia folgen.«
Er nickte, und ein
schelmisches, hoffnungsvolles Grinsen huschte über sein Gesicht.
»Hast du je an eine Gemeinschaftsarbeit gedacht?«
»Was für eine
Geschichte schwebt dir vor?«
»Die älteste
Geschichte der Welt«, sagte er. »Junge trifft Mädchen.«
»Wie wäre es mit Mädchen
trifft Jungen?«, gab ich lächelnd zurück.
Er hob das Glas.
Ich zögerte einen
Augenblick, dann stieß ich mit ihm an. »Auf eine neue
Geschichte«, sagte ich.
ENDE
NACHWORT
Eines Herbstabends zu Beginn
meines Graduiertenstudiums in Harvard saß ich im Hinterzimmer der
Child Library, der Zufluchtsstätte des English Department im obersten
Stock der Widener-Bibliothek, und blätterte alte Bücher durch,
als ich auf vier Bände stieß: ›The Elisabethan Stage‹
von E. K. Chambers aus dem Jahr 1923. Ich schlug jeden einzelnen auf. Die
Bände steckten voller Informationen - und Details, bei denen ich oft
nicht wusste, was ich damit anfangen sollte, wie zum Beispiel, dass
»viele elisabethanische Schauspieler halbe Akrobaten [waren] und
zweifellos an einem Drahtseil fliegen« konnten. Dann, am Ende des
dritten Bandes, fand ich das Kapitel über Shakespeares Bühnenwerk,
das mit dem kurzen Abschnitt »Verschollene Stücke«
endete.
Ich wusste, dass die Mehrheit
der Dramen der englischen Renaissance nicht überlebt hatte, und so
nahm ich - vage - an, dass auch von Shakespeare manches Stück
verschollen war. Was mich jedoch überraschte, war, dass Chambers
Fakten zu Shakespeares verschollenen Stücken zu kennen schien. Hier
hatte ich schwarz auf weiß zwei Titel vor mir, und im Fall von
›Cardenio‹ sogar die Grundzüge der Handlung.
Ich begann mich zu fragen,
wie es wäre, ein solches Stück zu finden. Wo könnte sich so
ein Ding verstecken? Wie würde sich der Augenblick seiner Entdeckung
anfühlen? Und wie würde der Fund mein Leben beeinflussen -
abgesehen vom sofortigen Eintritt von Reichtum und Ruhm?
Der erste Ort, an dem man
nach Shakespeares verschollenen Stücken suchen würde, wären
natürlich Bibliotheken und historische Stätten in England.
Andererseits - hätten sie die ganze Zeit an einem vorhersehbaren Ort
gelegen, wären sie nicht längst gefunden worden? Ich begann mir
in der egoistischen Welt meiner Tagträume auszumalen, wo außerhalb
Englands ein Shakespeare-Stück verloren gegangen sein könnte -
am besten an einem Ort, wo ich es finden konnte, wie New England (oder
irgendwo an der Ostküste zwischen Boston und Washington, D. C.) oder
in der Prärie im Südwesten der Vereinigten Staaten. Manchmal,
wenn ich zufällig im Hinterland von New England unterwegs war,
durchstöberte ich sogar in Antiquitätenläden und alten
Scheunen die Bücherkisten. Doch kein Ramschverkäufer hatte einen
Shakespeare-Vers übersehen, geschweige denn ein ganzes Manuskript.
Im Laufe der Zeit sah ich
ein, dass ich nie über eins der Stücke stolpern würde, aber
dass es Spaß machte, eine Geschichte daraus zu machen, denn so
konnte ich bestimmen, was passierte und wem. Und dann dachte ich -
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