Die Shakespeare-Morde
der blutigen Tyrannin Zeit? Man macht Kinder, um sich
vor der Zeit zu schirmen.« Er nahm mir das Buch aus der Hand und blätterte
durch die ersten Seiten. »Aus - wo ist es? Hier.« Mit dem
Finger zeigte er auf das Gedicht. »Sonett 16.«
Dann blätterte er ein
paar Seiten weiter.
»Das ist schon schlimm
genug, aber das zweite Zitat - das ist wirklich zum Heulen, wenn man darüber
nachdenkt. Was für ein Mann schüttelt sich ein Meisterwerk wie
›Romeo und Julia‹ aus dem Ärmel, doch zu seinem
Geliebten ›Ich liebe dich‹ zu sagen, davor hatte er Angst?
Solche Angst, dass seine einzige Verteidigung gegen die verdammte honigzüngige
Rivalin war, ihn zu bitten, ›Lies meine Bücher‹?-
Dann mögen meine Bücher
mich erklären,
Die stummen Boten der
beredten Brust,
Die Liebe flehn und ihren
Lohn begehren
Mit besserm Wort, als
Lippen je bewußt.«
Seine Stimme füllte den
Raum mit einem Verlangen, das sich fast ins Unerträgliche steigerte,
bevor es langsam erstarb.
An seine Stelle rieselte der
feine Sand des Zweifels. Die Brosche war ein Geschenk, mehr nicht. Ich
betrachtete die kleine Karte, die mit der Schrift zu ihm zwischen uns lag.
»Es ist eine Tragödie,
auf die Kürze eines Sonetts zurechtgestutzt«, sagte Sir Henry.
»Schon nach dreiundzwanzig Gedichten ist er mitten in -«
Der Cognac brannte in meiner
Kehle. »Was hast du gerade gesagt?«
»Er ist mitten in -«
»Nein. Die Zahl.«
»Dreiundzwanzig. Hier.«
Er hielt mir das Buch hin.
»Es geht nicht um die
Worte«, sagte ich, und plötzlich war ich aufgeregt. »Ganz
gleich, wie schön sie sind. Es sind die Zahlen. Die Nummern der
Sonette.«
»Sechzehn und
dreiundzwanzig?«
Ich nahm Ros’ Karte,
hielt sie ihm umgedreht hin und deutete auf das Postskriptum. »Siehst
du die Buchstaben da unten?«
Stirnrunzelnd betrachtete er,
was ich gesehen hatte: den unleserlichen Schnörkel, den wir beide für
das s des Ps. gehalten hatten und der sich als ordentliches kleines a
entpuppte, gefolgt von einem d.
»A. D.«, las er
laut. »Anno Domini. Im Jahre des Herrn … Ich weiß
nicht, wohin uns das führen soll.«
»Zurück in die
Zeit«, sagte ich kurz. »Lies die Zahlen als Datum.«
»Sechzehn
dreiundzwanzig … Was soll das heißen? Außer dass es
sechs, nein, sieben Jahre nach Shakespeares Tod ist? Wir reden hier doch
noch von Shakespeare, oder?«
»Sein jakobäisches
Buch der Bücher.« Ich nickte. »Das Magnum opus, das alle
anderen einschließt. Aus dem Jahr 1623.«
»Mein Gott«,
sagte Sir Henry. »Die First Folio Edition.«
8
Wir starrten einander an. Die
First Folio Edition war die Erstausgabe von Shakespeares gesammelten
Werken, posthum veröffentlicht im Jahr 1623. Seine alten Freunde und
Gönner hatten ihm damit ein Denkmal - ewiger als Marmor - gesetzt,
und sie hatten reichlich Geld, Liebe und Zeit hineingesteckt. Das Buch,
das aus der Presse kam, war ein wunderschönes Objekt - und der
unverhohlene Versuch, den Autor aus der rauen zwielichtigen Theaterwelt
hinauf auf die Höhe des Parnass zu heben. Für Shakespeares
Feinde - jene, die ihn zu Lebzeiten als »emporgekommene Krähe«
beschimpft hatten - war die First Folio Edition ein bitterer Rachestreich.
»Allemal das Motiv für
einen Mord«, sagte Sir Henry. »Die Folio ist eins der
wertvollsten und begehrtesten Bücher überhaupt. Wusstest du,
dass vor Kurzem eine zerrissene Ausgabe mit Wasserflecken, der mehrere
Seiten fehlten, für 160 000 Pfund versteigert wurde?« Er schüttelte
ungläubig den Kopf. »Als bei Sotheby’s letztes Jahr ein
besonders gut erhaltenes Exemplar unter den Hammer kam, ging es für fünf
Millionen Dollar weg. Sir Paul Getty hat angeblich sechs Millionen für
seine First Folio ausgegeben. Stell dir das vor: ein alter Schinken, der
zehnmal so viel einbringt wie ein Haus in London. Versteh mich nicht
falsch, Kate, aber wenn Ros tatsächlich eine Folio gefunden hätte,
warum ist sie dann nicht direkt zu Sotheby’s oder Christie’s
gegangen, um sie versteigern zu lassen und sich in einer Villa in der
Provence zur Ruhe zu setzen? Warum kam sie stattdessen zu dir?«
»Ich weiß es
nicht«, sagte ich, während ich versuchte, so etwas wie Ordnung
in meine Gedanken zu bringen. »Es sei denn, es war keine neue Folio,
die sie entdeckt hat - kein verschollenes Exemplar, meine ich -, sondern
etwas darin. Oder sie
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