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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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Stücke -, als die widerspenstige alte Jungfer
     missmutig dem Tod entgegenblickte und sich störrisch dagegen wehrte,
     ihren jungen Vetter Jakob - oder sonst jemanden - als ihren Nachfolger zu
     benennen. Für die meisten Leute mochte die Unterscheidung zwischen
     elisabethanischem und jakobäischem Stil spitzfindig sein, viele
     bestritten sogar jeden Unterschied. Doch für Ros herrschte zwischen
     den beiden Epochen eine himmelweite Kluft, ein Gegensatz, so fundamental
     wie der zwischen Sonne und Mond oder männlich und weiblich. Bevor Ros
     sich bei der Einordnung irrte, hätte sie eher ihren Bruder mit ihrer
     Schwester verwechselt oder ihren Kopf mit ihrer Hand.
    Sir Henry begann Shakespeares
     jakobäische Stücke herunterzuleiern. »›Macbeth‹,
     ›Othello‹, ›Der Sturm‹ … Hatte sie
     darunter ein Lieblingsstück?«
    »Nicht dass ich wüsste.«
    »Womit wir wieder bei
     ›Hamlet‹ wären«, überlegte er. »Süßes
     der Süßen, sagt Königin Gertrude, als sie Blumen auf
     Ophelias Grab streut. Auf jeden Fall passt es gut zu ihrem Geschenk.«
    »Da steht noch etwas«,
     sagte ich und hielt die Karte ins Licht. Ans untere Ende hatte Ros eine
     Art poetisches Postskriptum gekritzelt, vier Verse, durch einen
     Gedankenstrich in zwei Paare geteilt:
     
    Doch warum suchst du besser
     nicht zu schirmen
    Dich vor der blutigen
     Tyrannin Zeit?
    -
    Dann mögen meine Bücher
     mich erklären,
    Die stummen Boten der
     beredten Brust.
    Sir Henry zuckte zusammen.
     »Das ist es«, sagte er heiser. »Dein jakobäisches
     Meisterwerk.«
    Stirnrunzelnd versuchte ich
     die Zeilen einzuordnen. »Es ist Shakespeare. So viel ist sicher.
     Aber was? Nicht ›Hamlet‹.«
    Sir Henry sprang auf und ging
     an ein hohes Bücherregal, auf dem eine Büste von Shakespeare
     stand. »Nein, albernes Kind, nicht ›Hamlet‹«,
     rief er. Mit dem Finger fuhr er die Buchrücken entlang und murmelte:
     »Drittes Fach von oben. Vierter Band von links, das müsste es
     sein. Ja - hier haben wir es.« Er zog ein dünnes Bändchen
     aus dünnem Leder mit goldener Prägung heraus. Als er an den
     Kamin zurückkam, platzierte er es mit einer galanten Geste auf meinem
     Schoß.          
    Auf dem Buchdeckel war kein
     Titel zu sehen. Ich legte Ros’ Karte auf den Tisch, schlug die erste
     Seite auf und glättete das Papier, das dick und schwer war und die
     Farbe von Milchkaffee hatte. Dort war eine Zeichnung von Cherubim, auf
     Blumen reitend, die ebenso Drachen sein konnten. Ich las laut vor: »SHAKE-SPEARES
     SONETTE.«
    »Ich persönlich hätte
     ihm den Titel ›Eine Autobiografie in Rätseln‹ gegeben«,
     sagte Sir Henry. »Aber mich hat ja keiner gefragt.«
    Ich betrachtete die Rückseite
     des ersten Blatts:
     
    Erstausgabe
    In London
    durch G. Eid für T. T.
    und zum Verkauf durch
    William Aspley.
    1609.
     
    Beeindruckt blickte ich auf.
     »Aber das ist ja ein Original.«
    »Ein jakobäisches
     Original«, sagte Sir Henry mit funkelnden Augen. »Und ein
     Magnum opus, wie manche behaupten. Einhundertundvierundfünfzig
     Gedichte, die auch einzeln als Schmuckstücke zu betrachten sind. Ros
     hat aus zwei von ihnen zitiert. Doch ihre wahre Schönheit offenbart
     sich erst, wenn man sie zu einer einzigen Geschichte aufreiht. Dann
     flackert zwischen den Zeilen ein herrliches dunkles Märchen auf: der
     Goldene Jüngling, die Schwarze Dame und der Dichter. Der Dichter war
     natürlich Shakespeare selbst, doch wer war der Jüngling? Und wie
     landete er in den Armen von Shakespeares dunkelhaariger, dunkelherziger
     Herrin?« Das ganze Haus schien seinen Worten erwartungsvoll zu
     lauschen. »Weshalb bekniete der Dichter den jungen Mann, ein Kind zu
     zeugen - und weshalb lehnte der junge Mann ab?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Die Sonette sind voll
     von Liebe, Eifersucht und Betrug - der ganze verhängnisvolle Stoff,
     aus dem die Mythen sind. Doch sie sind noch fesselnder, weil sie die
     Wahrheit erzählen.«
    Im Kamin brach knisternd ein
     Holzscheit auseinander.
    »Und voll Mitleid für
     eine alternde Bühnenkönigin«, sagte Sir Henry
     selbstironisch. »Hat Ros dir gegenüber je solche Gedanken geäußert?«
    Beinahe hätte ich meinen
     Cognac ausgespuckt. »Dass ich heiraten und kleine rothaarige Kates
     gebären soll?«
    Sir Henry beugte sich vor.
     »Dass du dir einen Liebhaber suchen und dich reproduzieren sollst,
     um für immer jung zu bleiben. Doch warum suchst du besser nicht zu
     schirmen/Dich vor

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