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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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brauchte eine Information.«
    »Eine Information, die
     du hast und sie nicht?«
    Hätten wir von jemand
     anderem als Ros gesprochen, hätte ich seine Skepsis als Beleidigung
     aufgefasst. Doch Ros war berühmt für ihr enzyklopädisches
     Wissen über Shakespeare. Sie kannte jeden Vers, jedes Motiv seiner
     Dramen und Gedichte, die jemals vor dem US-Kongress, im sowjetischen
     Ballett oder in der Nazi-Propaganda zitiert wurden. Dank Ros wusste man
     heute, dass Shakespeare sowohl im japanischen Kabuki-Theater als auch an
     den Lagerfeuern im ostafrikanischen Busch bekannt war. In ihrem letzten
     Buch - bei dessen Recherchen ich ihr eine Zeit lang geholfen hatte - hatte
     sie auf charmante Weise vorgeführt, wie geläufig Shakespeare im
     Wilden Westen war, unter all den ungehobelten Bergleuten und Trappern,
     Cowboys und Huren, und sogar bei manchen Indianerstämmen. Ihre
     Expertise und ihr Rat waren bei Literaturwissenschaftlern, Museen und
     Theaterensembles auf der ganzen Welt gefragt.
    Doch diesmal hatte sie mich
     um Rat gebeten. Ich brauche Hilfe, hatte sie am Nachmittag gesagt. Deine
     Hilfe. Mir fiel nur ein einziger Grund dafür ein: meine Dissertation.
     Ich hatte mich an ihrer Arbeit orientiert, doch ich hatte es mir zum Ziel
     gesetzt, den schlammigen Bodensatz zu durchsieben.
    »Der okkulte
     Shakespeare«, sagte ich laut. »Im Sinne von Geheimwissen,
     nicht von Magie«, schob ich meine alte Erklärung hinterher.
     »Das einzige Gebiet bei Shakespeare, auf dem ich mich besser
     auskenne als Ros: die seltsame Geschichte all der Versuche, verbotenes
     Wissen aus seinen Werken herauszulesen. Das meiste soll in der Folio
     verborgen sein.«
    Sir Henry musterte mich.
     »Verbotenes Wissen?«
    »Prophezeiungen oder
     Chroniken. Je nach Geschmack.« Ich lächelte ironisch. »Die,
     die an Shakespeare als Propheten glauben, halten die Folio für so
     etwas wie die Prophezeiungen des Nostradamus: eine verrätselte
     Weissagung, die angeblich den Aufstieg Hitlers vorhergesehen hat, die
     Landung auf dem Mond, das Datum der Apokalypse und was es nächsten Dienstag zum
     Abendessen gibt. Die ›Historiker‹ dagegen sind hauptsächlich
     damit beschäftigt, die alte Liebesgeschichte zwischen Elisabeth I.
     und dem Graf von Leicester aufzuwärmen -«
    »Wohl kaum ein
     Geheimnis«, sagte Sir Henry. »Keine zehn Jahre vergehen, ohne
     dass wieder ein bahnbrechender Nackenbeißer über die alte
     Affaire de cœur herauskommt. In Hollywood ist man an der Sache schon
     seit hundert Jahren dran.«
    »Schon, aber die
     Lesarten, von denen ich spreche, gehen von einer Heirat der Königin
     und des Grafen aus, nicht nur von einer Affäre, und außerdem hätte
     es einen legitimen Thronfolger gegeben. Einen Sohn, der direkt nach seiner
     Geburt fortgeschafft wurde, genau wie König Artus - und der wie König
     Artus eines Tages zurückkehren soll.«
    Sir Henry murmelte etwas, das
     wie »Plumperquatsch« klang. Als er die Sprache wiedergefunden
     hatte, sagte er genervt: »Und warum soll ausgerechnet ein einfacher
     Schreiberling aus Stratford Zugang zu solchen Informationen gehabt haben?«
    Der Wind heulte um die Ecke
     des Hauses und rüttelte an den Läden der Balkontür hinter
     uns. Ich trank einen Schluck Cognac. »Weil er der Junge war.«
    Einen Moment lang war es
     still bis auf das Knistern im Kamin. Dann begann Sir Henry schallend zu
     lachen. »Einen solchen Mumpitz kannst du unmöglich ernst meinen«,
     sagte er glucksend und schenkte mir Cognac nach.
    Ich lächelte. »Nein.
     Genauso wenig wie Ros. Das meiste ist wirklich an den Haaren herbeigezogen
     - auch wenn die eine oder andere Geschichte ziemlich tragisch ausging.«
     Ich stand auf und stellte mich vor den Kamin. »Ich glaube nicht,
     dass Ros an irgendetwas davon interessiert war, solange es nicht um
     handfeste Literaturwissenschaft ging. Aber es spielt gar keine Rolle, ob
     an den Geschichten wirklich etwas dran ist oder nicht. Vielleicht wurde
     sie umgebracht, weil jemand dachte, sie hätte etwas entdeckt.«          
    »Oder Angst hatte, sie
     könnte etwas entdecken.«
    Ich stellte das Glas auf das
     Kaminsims. »Aber was? Und wo? Von der First Folio Edition existieren
     ungefähr zweihundertdreißig Ausgaben, die über die ganze
     Welt verstreut sind. Selbst wenn ich wüsste, um welches Exemplar es geht - oder
     dass es um etwas geht, das in allen zu finden ist -, die Folio ist ein
     dickes Buch. Wonach soll ich suchen?«
    Sir Henry

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