Die Shakespeare-Morde
brauchte eine Information.«
»Eine Information, die
du hast und sie nicht?«
Hätten wir von jemand
anderem als Ros gesprochen, hätte ich seine Skepsis als Beleidigung
aufgefasst. Doch Ros war berühmt für ihr enzyklopädisches
Wissen über Shakespeare. Sie kannte jeden Vers, jedes Motiv seiner
Dramen und Gedichte, die jemals vor dem US-Kongress, im sowjetischen
Ballett oder in der Nazi-Propaganda zitiert wurden. Dank Ros wusste man
heute, dass Shakespeare sowohl im japanischen Kabuki-Theater als auch an
den Lagerfeuern im ostafrikanischen Busch bekannt war. In ihrem letzten
Buch - bei dessen Recherchen ich ihr eine Zeit lang geholfen hatte - hatte
sie auf charmante Weise vorgeführt, wie geläufig Shakespeare im
Wilden Westen war, unter all den ungehobelten Bergleuten und Trappern,
Cowboys und Huren, und sogar bei manchen Indianerstämmen. Ihre
Expertise und ihr Rat waren bei Literaturwissenschaftlern, Museen und
Theaterensembles auf der ganzen Welt gefragt.
Doch diesmal hatte sie mich
um Rat gebeten. Ich brauche Hilfe, hatte sie am Nachmittag gesagt. Deine
Hilfe. Mir fiel nur ein einziger Grund dafür ein: meine Dissertation.
Ich hatte mich an ihrer Arbeit orientiert, doch ich hatte es mir zum Ziel
gesetzt, den schlammigen Bodensatz zu durchsieben.
»Der okkulte
Shakespeare«, sagte ich laut. »Im Sinne von Geheimwissen,
nicht von Magie«, schob ich meine alte Erklärung hinterher.
»Das einzige Gebiet bei Shakespeare, auf dem ich mich besser
auskenne als Ros: die seltsame Geschichte all der Versuche, verbotenes
Wissen aus seinen Werken herauszulesen. Das meiste soll in der Folio
verborgen sein.«
Sir Henry musterte mich.
»Verbotenes Wissen?«
»Prophezeiungen oder
Chroniken. Je nach Geschmack.« Ich lächelte ironisch. »Die,
die an Shakespeare als Propheten glauben, halten die Folio für so
etwas wie die Prophezeiungen des Nostradamus: eine verrätselte
Weissagung, die angeblich den Aufstieg Hitlers vorhergesehen hat, die
Landung auf dem Mond, das Datum der Apokalypse und was es nächsten Dienstag zum
Abendessen gibt. Die ›Historiker‹ dagegen sind hauptsächlich
damit beschäftigt, die alte Liebesgeschichte zwischen Elisabeth I.
und dem Graf von Leicester aufzuwärmen -«
»Wohl kaum ein
Geheimnis«, sagte Sir Henry. »Keine zehn Jahre vergehen, ohne
dass wieder ein bahnbrechender Nackenbeißer über die alte
Affaire de cœur herauskommt. In Hollywood ist man an der Sache schon
seit hundert Jahren dran.«
»Schon, aber die
Lesarten, von denen ich spreche, gehen von einer Heirat der Königin
und des Grafen aus, nicht nur von einer Affäre, und außerdem hätte
es einen legitimen Thronfolger gegeben. Einen Sohn, der direkt nach seiner
Geburt fortgeschafft wurde, genau wie König Artus - und der wie König
Artus eines Tages zurückkehren soll.«
Sir Henry murmelte etwas, das
wie »Plumperquatsch« klang. Als er die Sprache wiedergefunden
hatte, sagte er genervt: »Und warum soll ausgerechnet ein einfacher
Schreiberling aus Stratford Zugang zu solchen Informationen gehabt haben?«
Der Wind heulte um die Ecke
des Hauses und rüttelte an den Läden der Balkontür hinter
uns. Ich trank einen Schluck Cognac. »Weil er der Junge war.«
Einen Moment lang war es
still bis auf das Knistern im Kamin. Dann begann Sir Henry schallend zu
lachen. »Einen solchen Mumpitz kannst du unmöglich ernst meinen«,
sagte er glucksend und schenkte mir Cognac nach.
Ich lächelte. »Nein.
Genauso wenig wie Ros. Das meiste ist wirklich an den Haaren herbeigezogen
- auch wenn die eine oder andere Geschichte ziemlich tragisch ausging.«
Ich stand auf und stellte mich vor den Kamin. »Ich glaube nicht,
dass Ros an irgendetwas davon interessiert war, solange es nicht um
handfeste Literaturwissenschaft ging. Aber es spielt gar keine Rolle, ob
an den Geschichten wirklich etwas dran ist oder nicht. Vielleicht wurde
sie umgebracht, weil jemand dachte, sie hätte etwas entdeckt.«
»Oder Angst hatte, sie
könnte etwas entdecken.«
Ich stellte das Glas auf das
Kaminsims. »Aber was? Und wo? Von der First Folio Edition existieren
ungefähr zweihundertdreißig Ausgaben, die über die ganze
Welt verstreut sind. Selbst wenn ich wüsste, um welches Exemplar es geht - oder
dass es um etwas geht, das in allen zu finden ist -, die Folio ist ein
dickes Buch. Wonach soll ich suchen?«
Sir Henry
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