Die Shakespeare-Morde
starrte auf Ros’
Karte auf dem Beistelltisch. »Warte mal«, sagte er. »Sie
hat aus dem sechzehnten und dem dreiundzwanzigsten Sonett zitiert, um das
Jahr anzugeben. Aber warum gerade diese Zeilen?« Er tippte auf die
Karte.
Ich stellte mich neben ihn.
Dann mögen meine Bücher
mich erklären,
Die stummen Boten der
beredten Brust.
Als ich begriff, worauf er
hinauswollte, wurde mir heiß. »Sie meinte ihre Bücher,
nicht wahr? Nicht nur Shakespeares. Sir Henry, das ist brillant.«
»Immer noch so etwas
wie die Nadel im Heuhaufen bei einer belesenen Literaturwissenschaftlerin.«
»Aber sie hat uns eine
Hilfestellung gegeben«, sagte ich grinsend. »Dreh die Karte
um.«
Die andere Seite zeigte im
unregelmäßigen, löchrigen Drucksatz einer
Handschreibmaschine einen alten Katalogeintrag:
Chambers, E.K. (Edmund
Kerchever).
1866-1954.
Die Elisabethanische Bühne.
Oxford, The Clarendon
Press, 1923 .
»Wunderschönes
Buch«, sagte Sir Henry.
»Bücher, meinst
du. Es sind vier dicke Bände.« Chambers war einer der letzten
Vertreter der alten Schule von Wissenschaftlern, die Fakten sammelten wie
die viktorianischen Botaniker Käfer und Schmetterlinge - wahllos und
im Übermaß -, um sie mit Witz und Überschwang der Öffentlichkeit
vorzustellen. In der ›Elisabethanischen Bühne‹ hatte er
jedes noch so kleine schriftliche Zeugnis, das mit englischem Theater zu
Shakespeares Zeiten zu tun hatte und bis dato bekannt war, versammelt.
Seitdem war nur noch wenig dazugekommen.
Die vier Bände waren für
die Forschung so etwas wie eine Schatzkiste, randvoll mit vergessenem
Trivialwissen der Theatergeschichte.
»Auf jeden Fall
praktischer als die Folio«, sagte Sir Henry und erhob sich. »Denn
zufälligerweise habe ich eine Ausgabe hier.« Er durchquerte die
Bibliothek.
»Warte«, sagte
ich. »Nicht deine Bände. Ihre Bände. Das hier ist ihre
Katalogkarte.«
Er sah mich an. »Ros
hat ihre eigenen Bücher katalogisiert?«
»Nein. Aber bei Büchern
hat Ros zwischen ihren eigenen und denen, die Harvard gehören, keinen
Unterschied gemacht. Siehst du das hier?« Ich zeigte auf das Kürzel
am oberen Rand. Thr390.160. »Das ist eine Signatur des Systems, das
früher in der Widener Library benutzt wurde, Harvards
Hauptbibliothek, bevor Melvil Dewey die neue Klassifikation eingeführt
hat.«
»Ros hat eine Karte aus
dem Zettelkatalog von Harvard mitgehen lassen?«
»Der Zettelkatalog gehörte
ihr. Als in Harvard die Kataloge vor ein paar Jahren ins Netz gestellt
wurden, hat die Bibliotheksleitung in einem Anfall digitaler Vermessenheit
den ganzen Zettelkatalog ausgemustert. Um Platz zu sparen, wollten sie die
alten Karteikarten loswerden - elf Millionen, von denen manche noch aus
dem achtzehnten Jahrhundert stammen. Und die seitdem als Schmierzettel
verwendet wurden. Als Ros davon Wind bekam, ist sie auf die Barrikaden
gegangen - und sie hat sich nicht wieder beruhigt.«
»Zweifellos hat sie
ihre Meinung mit Eloquenz vertreten«, sagte Sir Henry mit
hochgezogener Braue.
Ich lächelte. »Sie
schrieb Leserbriefe an die ›New York Times‹, an den ›New
Yorker‹, die ›Atlantic Monthly‹ und das ›Times
Literary Supplement‹ in denen sie über die Bibliothek herzog.
Am Ende wirbelte sie so viel Staub auf, dass die Universität sich
bereit erklärte, ihr alle Karten im Bereich englische Renaissance und
Shakespeare zu überlassen, damit sie endlich Ruhe gab. Ros musste sie
nur selbst heraussortieren. Wahrscheinlich hofften sie, dass Ros bei
dieser Aussicht klein beigeben würde, doch da lagen sie falsch. Ros
delegierte drei Forschungsassistenten, die eineinhalb Jahre nichts anderes
taten, als den riesigen Papierberg durchzugehen … Einer davon war
ich.«
Wehmütig sah ich die
Karte an. »Sie bewahrt sie in ihrem Büro auf, in einem der
alten Karteikästen. Ich glaube nicht, dass sie nach all der Mühe
eine der Karten einfach so als Briefpapier benutzen würde.« Ich
strich mit dem Finger über das Papier. »Nein. Ich gehe jede
Wette ein, dass sie in ihrer Chambers-Ausgabe irgendeinen Hinweis
versteckt hat, der uns sagt, um welche First Folio Edition es geht und wo
sie sich befindet.«
»Und was ist dein
Wetteinsatz?«
»Eine Reise nach
Harvard?«
Sir Henry stellte sein Glas
ab. »Warum gehst du nicht einfach zur Polizei? Der Weg wäre ein
ganzes Stück
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