Die Shakespeare-Morde
meinen Schlüsselbund aus dem Seitenfach meiner Tasche. In meiner Hand
lagen fünf Schlüssel, einer davon länger, schwerer und
dunkler als die anderen. Der Schlüssel zu Ros’ Bibliotheksbüro.
Ich hatte ihn mitgenommen, als ich gegangen war; seit drei Jahren trug ich
ihn mit mir herum und redete mir ein, ich würde ihn zurückgeben,
sobald sie mich darum bat. Was sie nie getan hatte.
Plötzlich begriff ich.
Ich hob den Kopf. Die Spur, die sie gelegt hatte, führte direkt in
ihr Büro.
Sinclair mit seinen
Klemmbrettern und seiner verbissenen Effizienz hatte bestimmt längst
den Sicherheitsdienst von Harvard informiert und Ros’ Büro
versiegeln lassen - ihr offizielles Büro im English Department. Doch
vielleicht, ganz vielleicht, hatten sie das Arbeitszimmer in der
Bibliothek vergessen. Die Widener-Bibliothek war ein verwunschener Ort, an
dem die Uhren anders tickten. Hierher kamen die Professoren, wenn sie vor
den ständigen Störungen des Universitätsbetriebs fliehen
wollten, um sich in die Schatzsuche ihrer Forschung zu vergraben.
Wahrscheinlich wusste man im English Department nicht einmal, wo genau
sich Ros’ Bibliotheksbüro befand.
Doch wenn bekannt wurde, dass
sie ermordet worden war, würde man sich früher oder später
daran erinnern. Mit Sinclair im Nacken eher früher als später.
Ich hatte nur ein kleines Zeitfenster zur Verfügung, das sich bereits
zu schließen begann.
Im Stillen entschuldigte ich
mich bei Sir Henry, dann griff ich nach meiner Tasche, lief über den
Rasen und eilte die steile Treppe zur Bibliothek hinauf.
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Ich zeigte meinen Ausweis vor
und machte mich zum zweiten Mal auf den Weg in die Bibliothek. Doch
diesmal wollte ich nicht in den ausgelagerten Kellerbereich, sondern in
die eigentlichen Magazine, die über zehn labyrinthische Stockwerke -
vier davon unterirdisch -verteilt waren. Ros’ Arbeitszimmer befand
sich im vierten Stock. Ich hastete die Treppen hinauf, dann trat ich auf
den Flur und blieb stehen.
Ich hatte die Macht der
Magazine vergessen. Dieser Teil des Gebäudes hatte nichts vom Pomp
der öffentlichen Hallen und Leseräume - und noch weniger von der
klinischen Kälte im Kellergeschoss. Hier war die Luft staubig von
uraltem Moder, mit dem sich ein stechender Geruch mischte - der Hauch des
Kampfs zwischen Papier und Sauerstoff, der unaufhaltsamen Zerstörung,
die das ganze Reich nach und nach in Staub auflöste.
Ich straffte die Schultern
und machte mich zum Südflügel auf, wo die langen Reihen der
Eisen- und Stahlregale um die Ecke liefen und in der Ferne kleiner wurden.
An einem warmen Sommernachmittag herrschte hier oben kaum Betrieb.
Trotzdem sah ich zwei, drei strebsame Studenten, die sich tief über
ihre Studien beugten. Ich hatte den Ort also nicht für mich allein.
Solange ich so tat, als hätte
ich jedes Recht, hier zu sein, würde ich wahrscheinlich am wenigsten
Verdacht erregen. Ich bog in einen Gang zwischen den Regalen ein, der mich
zum inneren Korridor brachte. Am Ende des Korridors befand sich Ros’
Büro. Wie alle Türen war die obere Hälfte mit einer matten
Scheibe verglast, die provozierend undurchsichtig war.
Mein Schlüssel passte
noch. Die Tür ließ sich öffnen, und ich trat ein.
Es war noch fast genau so,
wie ich es in Erinnerung hatte. An drei Wänden standen bis unter die
Decke Regale voller Bücher, nur unterbrochen von dem hohen
Karteikartenschrank mit den Katalogkarten auf einer Seite und ihrem
Schreibtisch gegenüber. Auf dem Tisch lag ein Paar Ohrringe, eine
Navajo-Arbeit aus Silber mit Türkisen, die ich ihr vor langer Zeit
geschenkt hatte. Neben der Tastatur stand ein Silberrahmen mit einem Foto
von Virginia Woolf. Eine Shakespearebüste beschwerte einen Stapel
Papiere. Zwei Landkarten hingen an der Wand, eine große Englandkarte
und daneben die Reproduktion einer Karte aus Shakespeares Zeiten. Am Boden
lag immer noch der gleiche alte Perserteppich mit der abgewetzten Stelle,
wo sie mit dem Stuhl vor- und zurückrollte. In der Ecke zwischen
Regal und Fenstern stand ein alter Ohrensessel aus fadenscheinigem Chintz.
Die einzige Veränderung
waren die beiden Fenster. Ros hatte sich stets geweigert, Vorhänge
oder Jalousien anzubringen; sie wolle keinen Zentimeter ihres Blicks auf
den Himmel opfern, wie sie sagte. Daran hatte sich nichts geändert.
Doch als ich das letzte Mal hier gewesen war,
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