Die Shakespeare-Morde
flüsterte ich, und als ich es aussprach, klickte es in einem
verborgenen Winkel meines Kopfs. Einen Moment lang saß ich still da.
Dann fischte ich mein Telefon aus der Tasche und rief Sir Henry an.
»Das Einstichloch«,
sagte ich, als er sich meldete, und meine Stimme überschlug sich vor
Aufregung.
»Dir auch einen schönen
Tag, liebe Kate.«
»Das Einstichloch, das
sie bei Ros gefunden haben. Wo war es?«
»Seltsame Frage«,
sagte er irritiert, »mit einer merkwürdigen Antwort. Die ich
zufälligerweise kenne, weil ich heute Abend ein weiteres Gespräch
mit Inspektor Sinclair hatte. Wunderbar grimmiger Kerl -ganz Dostojewski.«
»Wo, Sir Henry?«
»An der Vene direkt
hinter ihrem rechten Ohr.«
Grünes Licht sickerte
schimmernd durch das Blätterdach über mir, als würde ich
auf dem Grund eines ruhigen Meers sitzen. Hier unten hatte es kaum noch
die Kraft, die Schatten aufzuhellen, und von seiner Wärme war nichts
mehr zu spüren.
»Kate? Bist du noch da?«
»Genau wie er«,
flüsterte ich.
»Wer? Was genau wie
wer?«
»Hamlets Vater. Der
alte Hamlet. So ist er gestorben. So ist er zum Geist geworden.«
Sir Henry holte hörbar
Luft. »Und träufelt’ in den Eingang meines Ohrs das schwärende
Getränk«, murmelte er. »Mein Gott, Kate, natürlich.
Sein Bruder hat ihm Gift ins Ohr geträufelt, während er schlief.
Es passt alles… bis auf eines.«
»Was?«
»Das vorläufige
toxikologische Gutachten, Darling«, sagte er sachte. »Es wurde
nichts gefunden.«
»Kein Gift? Bist du dir
sicher?«
»Ich weiß nicht,
was sie gesucht haben. Drogen und Medikamente wahrscheinlich. Jedenfalls
haben sie kein Gift entdeckt.«
»Sie müssen etwas
übersehen haben. Kannst du Inspektor Sinclair persönlich -«
»Inspektor Grimm hat es
mir selbst mitgeteilt.«
»Verdammt, Sir Henry«,
knurrte ich. »Der Geist von Hamlets Vater ist die Rolle, in der Ros
gestern Nachmittag aufgetaucht ist. Und die Bücher, auf deren Spur
sie mich gesetzt hat - die Signatur -, die Bände sind weg. Nicht
ausgeliehen. Einfach verschwunden. Glaubst du an so viele Zufälle?«
In der Leitung herrschte
ahnungsvolles Schweigen.
Dann sagte Sir Henry etwas
steif: »Ich rede mit Sinclair, aber unter einer Bedingung. Du gehst
in dein Hotel zurück, schließt die Tür ab und wartest auf
meinen Anruf. Ich habe Angst um dich.«
»Aber der Chambers -«,
protestierte ich.
»Eben hast du gesagt,
die Bände sind verschwunden.«
»Aber -«
»Warte auf meinen
Anruf, Kate.« Er meinte es ernst. »Sobald wir mehr von
Sinclair wissen, überlegen wir, was der nächste Schritt ist.
Falls du recht hast - und das heißt nicht, dass ich das glaube -,
dann befindest du dich in gefährlichem Gewässer, Kate, in dem du
nicht allein schwimmen solltest.«
Ich zögerte. Wenn ich
seinem Rat folgte, würde ich Chambers zu früh aufgeben, davon
war ich überzeugt. Andererseits konnte ich es mir nicht leisten, Sir
Henrys Hilfe auszuschlagen. »Schön«, sagte ich
widerwillig. »Ich warte, bis du anrufst.«
»Braves Mädchen.
Ich melde mich, sobald ich mehr weiß.«
Ich klappte das Telefon zu.
In was, zum Teufel, hatte Ros sich verwickeln lassen? Und mich dazu - und
Sir Henry?
Dann blickte ich über
den Rasen zur Bibliothek. Von hier wirkten die Säulen am Eingang so
monumental, als wollte sich aus dem kargen Backsteinkorsett ein
griechischer Tempel befreien. Ein Tempel der Weisheit, dachte ich. Die
erlauchtesten Mitglieder des Harvard-Kollegiums hatten die Ehre, private
Arbeitszimmer darin zu erhalten. Matthew Morris, der Bibliotheken aus
Prinzip verachtete, hatte in seines zwar kaum je einen Fuß gesetzt,
doch er weigerte sich, es aufzugeben. Es ging ums Prestige. Ein Büro
in der Widener-Bibliothek war so etwas wie ein Ehrenabzeichen. »Meine
Kammer der Geheimnisse«, hatte Ros ihr Büro genannt, als sie
mir an meinem ersten Tag als Assistentin den Schlüssel überreichte.
»Das Gehäuse für mein Gedächtnis.«
Eine Erinnerung rief die nächste
wach. »Was ist das?«, hatte ich bei unserem letzten
Zusammentreffen gestern gefragt. »Es ist in mein Gedächtnis
fest verschlossen«, hatte ihre Antwort gelautet, »und Ihr
solltet selbst dazu den Schlüssel führen.«
Gestern dachte ich, sie
meinte die goldene Schachtel, doch jetzt fiel mir ein, dass ich auch den
echten Schlüssel zu ihrem Gedächtnis besaß. Ich kramte
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