Die Shakespeare-Morde
ein Mausoleum mit einer Kuppel, das dem jungen Harry Widener gewidmet
war. Hier ruhten zwar nicht seine Gebeine, so doch seine Bücher. Im
marmornen Herz der Kuppel hatte man die exakte Kopie seines holzgetäfelten
Arbeitszimmers nachgebaut, und auf dem Schreibtisch standen jeden Morgen
frische Blumen.
Ich lief die Treppe hinauf.
Von einer prächtigen Galerie aus pergamentblassem Marmor führte
eine klassizistische Flügeltür in eine halbkreisförmige
Kammer, die ebenfalls mit Marmor ausgekleidet war. Gegenüber öffnete
sich eine kleinere Tür zu Harry Wideners Arbeitszimmer. Ich konnte
die dunkle Vertäfelung sehen, die Bücher in den Glasschränken
und die roten Nelken auf dem Schreibtisch, die nur ein wenig die Köpfe
hängen ließen. Doch ich war bereits dort, wo ich hinwollte. In
der Mitte des halbrunden Vorraums stand eine Vitrine, in deren Schaukasten
zwei Bücher lagen. Das eine war das erste Buch, das je gedruckt
wurde: die Gutenberg-Bibel, deren rhythmisches Latein in tiefe schwarze
Lettern geprägt war, die Initialen rot und blau ausgemalt. Das andere
war, dem guten Geschmack und großen Budget des jungen Harry sei
Dank, Harvards eigene Ausgabe der First Folio Edition.
Das Zimmer war leer; nur
selten verirrten sich Studenten herein. Die Folio war auf der Seite mit
Shakespeares Porträt aufgeschlagen, das ihn mit Silberblick,
hochgezogenen Brauen und Eierkopf zeigte. Der plump auf dem Kragen
aufgesetzte Schädel wirkte seltsam geköpft, als hätte man
Shakespeares abgetrenntes Haupt auf einem halben Heiligenschein serviert.
»MR WILLIAM SHAKESPEARES COMÖDIEN, HISTORIEN UND TRAGÖDIEN«,
verkündeten die großen Buchstaben über dem Kupferstich.
»PUBLICIRT GETREU DEN WAHREN ORIGINALEN COPIEN.« Darunter
stand: »LONDON. Gedruckt von Isaac Iaggard und Ed. Blount. 1623.«
Ich sah mir die Seite genauer
an. Kein Leser hatte es gewagt, hier Spuren zu hinterlassen. Ros hatte
zwar manche weniger heilige Titelei beschmiert, doch selbst sie hätte
davor zurückgeschreckt, eine First Folio zu verunstalten.
Chambers war der Schlüssel.
Irgendetwas in einem der vier Bände der ›Elisabethanischen Bühne‹
würde mir sagen, wonach ich zu suchen hatte. Das hieß, falls
ich die Widener-Ausgabe fand. Ein Schauer lief mir über den Rücken.
Was, wenn der Mörder sie bereits hatte? Aber das war nicht möglich.
Schließlich hatte ich Ros’ Hinweis bei mir gehabt, als sie
starb, und ihn danach nicht mehr aus den Händen gegeben.
Was wäre, wenn Ros die Bände
selbst ausgeliehen hatte? Falls es so war, hatte sie die Bücher
vermutlich mit nach London genommen. Sir Henry würde die Information
wahrscheinlich von der Polizei herausbekommen können. Und dann?
Sollte ich zu Sinclair gehen, mit den Augen klimpern und ihn bitten, mich
Professor Howards Bücher durchsehen zu lassen - ohne ihm einen
triftigen Grund anzugeben? Ich lief die Treppe hinunter und trat hinaus
unter die Bäume.
Auf der anderen Seite des
Rasens führten ein paar Stufen zur Terrasse der Memorial Church. An
einem Maiabend vor etwa fünf Jahren hatte die Terrasse als Bühne
meiner ersten Inszenierung gedient, die strengen Linien der
klassizistischen Kirche waren meine Kulisse. Ich hatte bei einer
Studentenaufführung von ›Was ihr wollt‹ Regie geführt.
Die weiße und rosa Blütenpracht der Hartriegelbüsche hatte
die Bühne gesäumt, und das Gelächter des Publikums hatte
das Blätterdach der Ulmen erfüllt.
Ich konnte heute noch stolz
auf meine Inszenierung sein. Das Stück war gleichzeitig umwerfend
komisch und düster grotesk gewesen mit seinem zentralen Streich, der
nichts bezweckte, als den stolzen, sittenstrengen Malvolio zur Torheit und
schließlich in den Wahnsinn zu treiben.
Ich setzte mich auf die
Stufen. Konnte es sein, dass Ros mir einen ähnlichen Streich gespielt
hatte?
Kein angenehmer Gedanke.
Traurig dachte ich an die zierliche Gestalt unter der Bank im Globe, an
ihre weit aufgerissenen Augen.
Ein Mordsbüro, hatte sie
gestern gesagt.
Ein Mordsauftritt, hatte ich
entgegnet.
Nach all dem Aufwand, Katie,
hätte ich etwas weniger Profanes für dich erhofft. Etwas, das
… shakespearischer ist.
Ich hatte sie schweigend
angefunkelt. Sir Henry war es, der ihr gab, was sie hören wollte. Ich
nenn dich Hamlet, hatte er gesagt, Fürst, Vater, Dänenkönig.
»Ich nenn dich Hamlet«,
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