Die Shakespeare-Morde
mich zu orientieren. In einer drakonischen schriftlichen Verfügung
hatte Mrs Widener, die Stifterin, festgelegt, dass am äußeren
Erscheinungsbild der Bibliothek kein Ziegelstein verändert werden
durfte. Im Inneren dagegen galt das nicht; hier hatte sie widerwillig die
Flexibilität eingeräumt, nach der Fortschritt und Wachstum
verlangten. Seit ich fort war, hatte das einundzwanzigste Jahrhundert
Einzug gehalten - im Zuge einer Multimillionen-Dollar-Renovierung. Ich
hoffte, dass ich mich noch zurechtfand, doch eine beschichtete Kopie des
Lageplans an der Wand verriet mir, dass sich wenigstens am Grundriss nicht
viel geändert hatte.
Ich folgte einem Weg, der
durch einen roten Streifen am Boden gekennzeichnet war, vier Stockwerke
hinab in die untersten Verliese der Bibliothek. Zwischen Regalen voller
vergessener Weisheit lief ich durch schummrige Gänge, bis ich einen
gekrümmten Tunnel mit riesigen, bullernden Rohren an den Wänden
erreichte. Am anderen Ende führte eine schwere Stahltür zu einem
Vorraum mit abgetretenem orangen Teppichboden, wo ein quietschender
Fahrstuhl noch weiter nach unten fuhr. Schließlich stand ich in
einem riesigen, grell erleuchteten quadratischen Raum, der surrte wie ein
vergrabenes Raumschiff.
Ich warf einen Blick auf den
Lageplan an der Wand neben dem Fahrstuhl, dann las ich Ros’ Karte.
Thr 390.160 war die Signatur, die ich suchte. Die Abteilung »Thr«
- Theatergeschichte - versteckte sich im hintersten Winkel des Raums. Ich
joggte los und wurde erst langsamer, als die ersten »Thr«-Nummern
in Sicht kamen. Dann fand ich die 390er. Ich bückte mich und fuhr mit
dem Finger die Buchrücken entlang: 190,180,165,160.5... Daneben
klaffte eine Lücke. Ich las die Signatur auf der Karte noch einmal
und sah zurück zum Regal. Ja, es war die richtige Stelle. Dort, wo
die Bände stehen sollten, gähnte ein Loch. Nicht einer der vier
Bände stand im Regal.
Verdammt, verdammt, verdammt.
Ich war nicht einmal auf die Idee gekommen, dass die Bücher
ausgeliehen sein könnten. Eilig lief ich zu dem Computer zurück,
der grimmig in der Ecke beim Fahrstuhl stand. Per Online-Katalog ließen
sich ausgeliehene Bücher frühzeitig zurückrufen, doch es
konnte eine Woche bis zehn Tage dauern, bis sie wieder da wären
… falls ich Glück hatte. Wenn der Ausleiher gerade ein
Forschungssemester außerhalb machte, konnte ein Monat vergehen. Ich
hatte keine Woche, geschweige denn einen Monat. Im Stillen fluchend tippte
ich den Titel in das Suchfenster ein.
Die Antwort, die ich bekam,
war noch schlimmer. »Nicht ausgeliehen«, behauptete der
Bildschirm störrisch. Frustriert machte ich mich auf den Weg zur
Leihstelle hinauf, wo mir eine Studentin am Schalter nuschelnd mitteilte,
ich könnte eine Regalsuche beantragen.
»Eine Regalsuche?«,
wiederholte ich. »Ihr wollt irgendein armes Würstchen auf die
Suche nach vier Bänden schicken, die zwischen elf Millionen Büchern
verschollen sind?«
Sie zuckte die Achseln.
»Hier im Gebäude stehen nur dreieinhalb Millionen. Aber Ihre
vier Bände tauchen wahrscheinlich trotzdem nicht auf.«
Wenn Ros bei Chambers etwas
gefunden hatte, hatte sie es mit Sicherheit irgendwie markiert. Davon war
ich überzeugt; Ros war eine notorische Unterstreicherin. Für gewöhnlich
malte sie kleine umgekehrte Bleistifthäkchen an den Rand - eine Art
Tick beim Lesen, der so unbewusst ablief wie das Atmen. Es ging das Gerücht,
sie sei einmal aus der British Library geflogen, nachdem sie ihr Häkchen
in ein tausendjähriges Manuskript gesetzt hatte. Nicht absichtlich.
Unbewusst. Die Briten konnten es ihr anscheinend verzeihen, zumindest die
altmodischen Bibliothekare dort, denn bald darauf hießen sie Ros
wieder willkommen. Gelegentlich machte sie sich Randnotizen, und ein- oder
zweimal hatte ich richtiggehende Schimpftiraden gefunden … Ich
musste unbedingt die Chambers-Ausgabe haben, die Ros als die ihre ansah.
Die Ausgabe der Widener-Bibliothek.
»Danke«, zwang
ich heraus und unterschrieb den Auftrag, der den armen Kerl in die Regale
schicken würde. An der Schwelle der Leihstelle blieb ich stehen. Was
nun?
Als ich mich zum Ausgang
wandte, blieb mein Blick an der großen Marmortreppe hängen. Der
Grundriss der Bibliothek bildete ein riesiges Quadrat um einen Innenhof.
In der Mitte des Hofs, durch einen schmalen Gang zugänglich, befand
sich
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