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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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mich zu orientieren. In einer drakonischen schriftlichen Verfügung
     hatte Mrs Widener, die Stifterin, festgelegt, dass am äußeren
     Erscheinungsbild der Bibliothek kein Ziegelstein verändert werden
     durfte. Im Inneren dagegen galt das nicht; hier hatte sie widerwillig die
     Flexibilität eingeräumt, nach der Fortschritt und Wachstum
     verlangten. Seit ich fort war, hatte das einundzwanzigste Jahrhundert
     Einzug gehalten - im Zuge einer Multimillionen-Dollar-Renovierung. Ich
     hoffte, dass ich mich noch zurechtfand, doch eine beschichtete Kopie des
     Lageplans an der Wand verriet mir, dass sich wenigstens am Grundriss nicht
     viel geändert hatte.
    Ich folgte einem Weg, der
     durch einen roten Streifen am Boden gekennzeichnet war, vier Stockwerke
     hinab in die untersten Verliese der Bibliothek. Zwischen Regalen voller
     vergessener Weisheit lief ich durch schummrige Gänge, bis ich einen
     gekrümmten Tunnel mit riesigen, bullernden Rohren an den Wänden
     erreichte. Am anderen Ende führte eine schwere Stahltür zu einem
     Vorraum mit abgetretenem orangen Teppichboden, wo ein quietschender
     Fahrstuhl noch weiter nach unten fuhr. Schließlich stand ich in
     einem riesigen, grell erleuchteten quadratischen Raum, der surrte wie ein
     vergrabenes Raumschiff.
    Ich warf einen Blick auf den
     Lageplan an der Wand neben dem Fahrstuhl, dann las ich Ros’ Karte.
     Thr 390.160 war die Signatur, die ich suchte. Die Abteilung »Thr«
     - Theatergeschichte - versteckte sich im hintersten Winkel des Raums. Ich
     joggte los und wurde erst langsamer, als die ersten »Thr«-Nummern
     in Sicht kamen. Dann fand ich die 390er. Ich bückte mich und fuhr mit
     dem Finger die Buchrücken entlang: 190,180,165,160.5... Daneben
     klaffte eine Lücke. Ich las die Signatur auf der Karte noch einmal
     und sah zurück zum Regal. Ja, es war die richtige Stelle. Dort, wo
     die Bände stehen sollten, gähnte ein Loch. Nicht einer der vier
     Bände stand im Regal.
    Verdammt, verdammt, verdammt.
     Ich war nicht einmal auf die Idee gekommen, dass die Bücher
     ausgeliehen sein könnten. Eilig lief ich zu dem Computer zurück,
     der grimmig in der Ecke beim Fahrstuhl stand. Per Online-Katalog ließen
     sich ausgeliehene Bücher frühzeitig zurückrufen, doch es
     konnte eine Woche bis zehn Tage dauern, bis sie wieder da wären
     … falls ich Glück hatte. Wenn der Ausleiher gerade ein
     Forschungssemester außerhalb machte, konnte ein Monat vergehen. Ich
     hatte keine Woche, geschweige denn einen Monat. Im Stillen fluchend tippte
     ich den Titel in das Suchfenster ein.
    Die Antwort, die ich bekam,
     war noch schlimmer. »Nicht ausgeliehen«, behauptete der
     Bildschirm störrisch. Frustriert machte ich mich auf den Weg zur
     Leihstelle hinauf, wo mir eine Studentin am Schalter nuschelnd mitteilte,
     ich könnte eine Regalsuche beantragen.
    »Eine Regalsuche?«,
     wiederholte ich. »Ihr wollt irgendein armes Würstchen auf die
     Suche nach vier Bänden schicken, die zwischen elf Millionen Büchern
     verschollen sind?«
    Sie zuckte die Achseln.
     »Hier im Gebäude stehen nur dreieinhalb Millionen. Aber Ihre
     vier Bände tauchen wahrscheinlich trotzdem nicht auf.«
    Wenn Ros bei Chambers etwas
     gefunden hatte, hatte sie es mit Sicherheit irgendwie markiert. Davon war
     ich überzeugt; Ros war eine notorische Unterstreicherin. Für gewöhnlich
     malte sie kleine umgekehrte Bleistifthäkchen an den Rand - eine Art
     Tick beim Lesen, der so unbewusst ablief wie das Atmen. Es ging das Gerücht,
     sie sei einmal aus der British Library geflogen, nachdem sie ihr Häkchen
     in ein tausendjähriges Manuskript gesetzt hatte. Nicht absichtlich.
     Unbewusst. Die Briten konnten es ihr anscheinend verzeihen, zumindest die
     altmodischen Bibliothekare dort, denn bald darauf hießen sie Ros
     wieder willkommen. Gelegentlich machte sie sich Randnotizen, und ein- oder
     zweimal hatte ich richtiggehende Schimpftiraden gefunden … Ich
     musste unbedingt die Chambers-Ausgabe haben, die Ros als die ihre ansah.
     Die Ausgabe der Widener-Bibliothek.
    »Danke«, zwang
     ich heraus und unterschrieb den Auftrag, der den armen Kerl in die Regale
     schicken würde. An der Schwelle der Leihstelle blieb ich stehen. Was
     nun?
    Als ich mich zum Ausgang
     wandte, blieb mein Blick an der großen Marmortreppe hängen. Der
     Grundriss der Bibliothek bildete ein riesiges Quadrat um einen Innenhof.
     In der Mitte des Hofs, durch einen schmalen Gang zugänglich, befand
     sich

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