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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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anfangen, sich zu fragen, ob ich genauso dubios wäre
     wie meine Themen.
    Warum wollte sie mir Delia
     ausreden, wenn sie sich im nächsten Moment selbst darauf stürzte?
     Seit wann interessierte sich Ros für Delia Bacon? Doch als ich in
     diese Richtung dachte, stieß ich auf einen Sumpf von Verbitterung;
     ich spürte es brodeln. Konzentrier dich auf Ophelia, versuchte ich
     mir einzureden.
    Doch außer mit einem
     Wurfpfeil auf eine Landkarte zu zielen, konnte ich, bis wir in Washington
     waren, nichts tun, um Ophelia und ihre Briefe zu lokalisieren - falls sie
     noch existierten.
    Und die Howards? Zu Athenaide
     hatte ich gesagt, die Howard-Geschichte spielte keine Rolle - was stimmte,
     soweit es die Suche nach dem Manuskript anging. Aber wenn wir ›Cardenio‹
     gefunden hatten … falls wir das Stück fanden …, was wäre
     dann?
    Wenn es ein gutes Stück
     war, wäre es vollkommen egal, warum es geschrieben wurde oder für
     wen. Das Stück wäre lustig, grausam oder schön, ganz ohne
     den Kontext seiner Entstehung. Wenn es nicht besonders gut war - oder
     sogar so schlecht wie ›Dopelte Falschheit -, dann würde der
     Bezug auf einen historischen Skandal selbst ein schlechtes Stück
     interessant machen.
    Ich hatte beide Briefe noch
     einmal gelesen - Granvilles Brief an Child und Ophelias Brief an
     Granville. Zusammen waren sie ziemlich eindeutig. Jeremy Granville hatte
     ein Manuskript von ›Cardenio‹ gefunden, und das Manuskript
     brachte ihn auf die Idee, dass es eine Verbindung zu den Howards und dem
     Grafen von Somerset gab. Und er glaubte, der Verfasser hätte etwas
     mit der »Gräfin« zu tun - einer Lady, von der Ophelia
     Fayrer Granville annahm, dass es sich um Frances Howard, die Gräfin
     von Somerset, handelte.
    Shakespeare war einer der größten
     Träumer unter der Sonne gewesen, und doch wussten wir so gut wie
     nichts von ihm. Zumindest nicht als Träumer. Nicht als Geschichtenerzähler.
     Vier Jahrhunderte der Recherche hatten nicht mehr zutage gefördert,
     als dass er geboren wurde, überstürzt heiratete, mit seiner
     Frau, die er kaum sah, drei Kinder zeugte, in Immobilien investierte,
     Steuern hinterzog, seine Nachbarn verklagte und von diesen verklagt wurde,
     und am Ende starb. Irgendwo dazwischen hatte er über dreißig Stücke
     verfasst, darunter eine Handvoll, die zu dem Besten gehörte, was
     jemals - in allen Sprachen, zu allen Zeiten - geschrieben worden war, und
     ein paar erlesene Gedichte.
    Doch trotz ihrer Kraft waren
     seine Werke seltsam unpersönlich, als hätte er zwischen seine
     öffentlichen und seine privaten Träume einen dunklen, sich
     gelegentlich bauschenden Vorhang herabgelassen. Natürlich gab es
     grobe Parallelen: eine Entwicklung seiner Interessen von jung erblühter
     Liebe zu Beginn seiner Laufbahn über Geschichten von Betrug und
     Bitterkeit im mittleren Alter bis hin zu den Mythen von Vätern und Töchtern,
     von Erlösung und Wiedergutmachung, als er dem Ende seiner Tage
     entgegenschritt. Stapelweise Aufsätze und Bücher zogen
     Verbindungen zwischen ›Hamlet‹ und dem Tod von Shakespeares
     jungem Sohn Hamnet, zwischen Hamlets Vater und der Königin, die
     England, seit vor Shakespeares Geburt regierte. Noch mehr
     Shakespeare-Forscher behaupteten, dass die Dreiecksbeziehung in den
     Sonetten um eine dunkle Lady und den goldenen Jüngling auf seinen
     eigenen bittersüßen Erfahrungen basierte. Doch all das war
     reine Spekulation. Wenn Kunst, wie Hamlet sagte, der Spiegel der Natur
     war, spiegelten Shakespeares Werke ihren Autor, wenn überhaupt, nur
     verschwommen.
    Und wenn Granvilles
     Manuskript mehr hergab als nur ein verschollenes Stück? Wenn es uns
     einen Blick auf die Person Shakespeares werfen ließ?
    Wir wussten nichts über
     die Menschen, die Shakespeare liebte, oder darüber, wie er sie
     umwarb. Worüber er mit seinen Freunden lachte. Was ihn ärgerte,
     was ihn rührte oder was ihn beglückte. In der grellen, klatschsüchtigen
     Welt des elisabethanischen London hatte Shakespeare es irgendwie
     geschafft, berühmt zu werden und doch unsichtbar zu bleiben. Ein Stück,
     das ihn mit einem der schockierendsten Skandale um Sex und Mord jener Zeit
     in Verbindung brächte - nicht als Zeugen, sondern als Mitwirkenden -,
     hätte eine Wirkung wie ein riesiges Feuerwerk an einem mondlosen
     Himmel.
    Unmöglich.
    Oder doch?
    Ich musste eingeschlafen
     sein, denn ich erwachte, als Athenaide sanft an meiner Schulter

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