Die Shakespeare-Morde
anfangen, sich zu fragen, ob ich genauso dubios wäre
wie meine Themen.
Warum wollte sie mir Delia
ausreden, wenn sie sich im nächsten Moment selbst darauf stürzte?
Seit wann interessierte sich Ros für Delia Bacon? Doch als ich in
diese Richtung dachte, stieß ich auf einen Sumpf von Verbitterung;
ich spürte es brodeln. Konzentrier dich auf Ophelia, versuchte ich
mir einzureden.
Doch außer mit einem
Wurfpfeil auf eine Landkarte zu zielen, konnte ich, bis wir in Washington
waren, nichts tun, um Ophelia und ihre Briefe zu lokalisieren - falls sie
noch existierten.
Und die Howards? Zu Athenaide
hatte ich gesagt, die Howard-Geschichte spielte keine Rolle - was stimmte,
soweit es die Suche nach dem Manuskript anging. Aber wenn wir ›Cardenio‹
gefunden hatten … falls wir das Stück fanden …, was wäre
dann?
Wenn es ein gutes Stück
war, wäre es vollkommen egal, warum es geschrieben wurde oder für
wen. Das Stück wäre lustig, grausam oder schön, ganz ohne
den Kontext seiner Entstehung. Wenn es nicht besonders gut war - oder
sogar so schlecht wie ›Dopelte Falschheit -, dann würde der
Bezug auf einen historischen Skandal selbst ein schlechtes Stück
interessant machen.
Ich hatte beide Briefe noch
einmal gelesen - Granvilles Brief an Child und Ophelias Brief an
Granville. Zusammen waren sie ziemlich eindeutig. Jeremy Granville hatte
ein Manuskript von ›Cardenio‹ gefunden, und das Manuskript
brachte ihn auf die Idee, dass es eine Verbindung zu den Howards und dem
Grafen von Somerset gab. Und er glaubte, der Verfasser hätte etwas
mit der »Gräfin« zu tun - einer Lady, von der Ophelia
Fayrer Granville annahm, dass es sich um Frances Howard, die Gräfin
von Somerset, handelte.
Shakespeare war einer der größten
Träumer unter der Sonne gewesen, und doch wussten wir so gut wie
nichts von ihm. Zumindest nicht als Träumer. Nicht als Geschichtenerzähler.
Vier Jahrhunderte der Recherche hatten nicht mehr zutage gefördert,
als dass er geboren wurde, überstürzt heiratete, mit seiner
Frau, die er kaum sah, drei Kinder zeugte, in Immobilien investierte,
Steuern hinterzog, seine Nachbarn verklagte und von diesen verklagt wurde,
und am Ende starb. Irgendwo dazwischen hatte er über dreißig Stücke
verfasst, darunter eine Handvoll, die zu dem Besten gehörte, was
jemals - in allen Sprachen, zu allen Zeiten - geschrieben worden war, und
ein paar erlesene Gedichte.
Doch trotz ihrer Kraft waren
seine Werke seltsam unpersönlich, als hätte er zwischen seine
öffentlichen und seine privaten Träume einen dunklen, sich
gelegentlich bauschenden Vorhang herabgelassen. Natürlich gab es
grobe Parallelen: eine Entwicklung seiner Interessen von jung erblühter
Liebe zu Beginn seiner Laufbahn über Geschichten von Betrug und
Bitterkeit im mittleren Alter bis hin zu den Mythen von Vätern und Töchtern,
von Erlösung und Wiedergutmachung, als er dem Ende seiner Tage
entgegenschritt. Stapelweise Aufsätze und Bücher zogen
Verbindungen zwischen ›Hamlet‹ und dem Tod von Shakespeares
jungem Sohn Hamnet, zwischen Hamlets Vater und der Königin, die
England, seit vor Shakespeares Geburt regierte. Noch mehr
Shakespeare-Forscher behaupteten, dass die Dreiecksbeziehung in den
Sonetten um eine dunkle Lady und den goldenen Jüngling auf seinen
eigenen bittersüßen Erfahrungen basierte. Doch all das war
reine Spekulation. Wenn Kunst, wie Hamlet sagte, der Spiegel der Natur
war, spiegelten Shakespeares Werke ihren Autor, wenn überhaupt, nur
verschwommen.
Und wenn Granvilles
Manuskript mehr hergab als nur ein verschollenes Stück? Wenn es uns
einen Blick auf die Person Shakespeares werfen ließ?
Wir wussten nichts über
die Menschen, die Shakespeare liebte, oder darüber, wie er sie
umwarb. Worüber er mit seinen Freunden lachte. Was ihn ärgerte,
was ihn rührte oder was ihn beglückte. In der grellen, klatschsüchtigen
Welt des elisabethanischen London hatte Shakespeare es irgendwie
geschafft, berühmt zu werden und doch unsichtbar zu bleiben. Ein Stück,
das ihn mit einem der schockierendsten Skandale um Sex und Mord jener Zeit
in Verbindung brächte - nicht als Zeugen, sondern als Mitwirkenden -,
hätte eine Wirkung wie ein riesiges Feuerwerk an einem mondlosen
Himmel.
Unmöglich.
Oder doch?
Ich musste eingeschlafen
sein, denn ich erwachte, als Athenaide sanft an meiner Schulter
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