Die Shakespeare-Morde
Lesesaals. Die Tür war offen, und dahinter saß
eine Aufsicht an einem Schreibtisch. Ben hielt mich zurück, bis wir hörten,
dass jemand den Lesesaal verließ und seine Besucherkarte vorlegte -
keine große Ablenkung, aber besser als nichts. Auf Bens Nicken
traten wir in den Flur und schlenderten so gleichgültig wie möglich
an der Tür der Aufsicht vorbei.
Der Founders’ Room war
leer. Ben zog die Tür hinter uns zu und schloss ab.
Ursprünglich als
privater Rückzugsort für die Gründer der Bibliothek, Henry
und Emily Folger, konzipiert, wirkte der Raum wie ein elisabethanisches
Boudoir mit dunklen, kassettierten Paneelen, Balken an der Decke,
poliertem Parkett und Milchglasscheiben in den blinden Fenstern. In der
Mitte stand ein langer, mit Schnitzwerk verzierter Tisch mit Stühlen,
die im Vergleich zum Rest der wuchtigen Einrichtung zerbrechlich wirkten.
Gekrönt wurde das Ganze von einem herrlichen Gemälde von
Elisabeth I.
Athenaide war nicht zu sehen.
Ben schritt den Raum ab, während
ich zur Königin hinaufsah. Das rote Samtkleid mit den wattierten,
elfenbeinfarbenen Satinbesätzen, mit Gold und Perlen bestickt,
betonte ihren blassen Teint, die tiefroten Locken und ihre schwarzen
Augen. In der Hand hielt sie ein Sieb, Symbol ihrer Rolle als jungfräuliche
Königin. Das Gesicht, das der Maler ihr gegeben hatte, war
gleichzeitig zu Größe und zu Grausamkeit fähig.
Ben untersuchte ein paar
Kassettentüren, die einen steinernen Torbogen verschlossen, als wir
hinter uns in der Ecke ein Klopfen hörten. Beide drehten wir uns um.
Durch eine unauffällige
Tür in einer Nische kam Dr. Nicholas Sanderson hereingestürzt,
der Bibliothekar, mit einem losen Bündel maschinengeschriebener
Seiten unter dem Arm. »Das sollte es sein -«, begann er, dann
blieb er wie angewurzelt stehen und starrte von Ben zu mir. »Dr.
Stanley«, sagte er röchelnd.
Dr. Sanderson war ein
eleganter Südstaaten-Gentleman von kleinem Wuchs mit einem leichten
Akzent, der seine Heimat, Virginia, verriet, sanften Rehaugen und einer
spitzen Nase. Seine Haut war haselnussbraun und glänzte wie frisch
geschrubbt, und sein grauer lockiger Haarkranz erinnerte vage an
Shakespeares Tonsur. Er hatte ein Faible für Fliegen - heute hatte er
sich eine mit rotem Paisley-Muster umgebunden - und trug gerne glänzende
Schuhe, die auf dem Parkett klackten.
»Ich habe gehört,
dass Sie vielleicht kommen würden. Vom FBI. Wie sind Sie hier
reingekommen?«
»Zu Fuß.«
»Das wird das FBI nicht
gerne hören«, sagte er trocken.
»Es wäre gut, wenn
das FBI überhaupt nichts davon hört«, antwortete ich.
»Ich bin hier, um Sie um Hilfe zu bitten, Dr. Sanderson.«
Er verschränkte die Arme
auf dem Rücken und sah mich nachdenklich an. »Sie müssen
verstehen, wenn ich Vorbehalte habe, Dr. Stanley. Soweit ich weiß
sind überall, wo Sie in den letzten Tagen aufgetaucht sind, First
Folios in Flammen aufgegangen, zusammen mit den Gebäuden, in denen
sie aufbewahrt wurden.«
»Die Folios aus dem
Globe und der Widener-Bibliothek sind nicht verbrannt«, sagte ich
ruhig. »Sie wurden gestohlen.«
»Was?«
»Neunundsiebzig«,
sagte Ben. »Das ist die Anzahl derer, die Sie besitzen, nicht wahr?«
Dr. Sanderson musterte ihn.
»Und Sie sind?«
»Hall«,
antwortete Ben, bevor ich ihn vorstellen konnte. »Jude Hall.«
Innerlich zuckte ich
zusammen, doch Dr. Sandersons Miene zeigte keinen Hauch des
Wiedererkennens. Allerdings hatte er auch nichts von Susan Quinn gehört.
»Sie haben recht, Mr Hall«, sagte Dr. Sanderson indigniert,
was seinen Südstaatenakzent noch verstärkte. »Und mit
dieser Zahl geht eine gewisse Verantwortung einher.«
»Haben Sie in letzter
Zeit nachgezählt?«, fragte ich.
Jetzt war er empört.
»Wenn Sie andeuten wollen, es könnte ohne unser Wissen eine
verschwunden sein, muss ich Ihnen sagen, dass wir ein wenig knauserig
sind, wenn es darum geht, wer unsere Folios zu Gesicht bekommt, selbst
unter ganz normalen Umständen.«
»Das war man im Globe
und in Harvard auch«, gab ich zurück.
»Und über die
normalen Sicherheitsvorkehrungen hinaus«, fuhr Dr. Sanderson fort,
»ist seit zwei Tagen das FBI hier.«
»Wir sind
hereingekommen«, stellte Ben fest.
»Sie werden merken,
dass das Hinauskommen weitaus schwieriger ist«, sagte Dr. Sanderson.
»Aber ich nehme Sie beim Wort. Wenn Sie mich
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