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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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»Ich
     dachte, du wärest drüben im Theater gewesen.«
    »Wie kommst du darauf?«
     Sir Henry zog mich neben sich auf die Bank.
    »Ich habe die Sirenen
     gehört. Am Telefon.«
    Er schüttelte den Kopf.
     »Seit einer Stunde heult in ganz London jede Sirene, mein Kind.
     Nein, ich war flussaufwärts, auf einer gnadenlos langweiligen Soiree.
     Am Ende war es ein glücklicher Zufall«, sagte er mit einem
     Blick hinauf zur Menge auf der Brücke. »Die meisten Leute
     vergessen es, aber der Fluss ist immer noch die schnellste Straße
     durch die Stadt.«
    Als nach dem Zweiten
     Weltkrieg der Handel auf der Themse zum Erliegen kam, hatte Sir Henrys
     Vater zu trinken begonnen. Nach einer Endlosschleife von Reue und Wut
     hatte er seinem Unglück schließlich eines Nachts ein Ende
     gesetzt und sich im Fluss ertränkt. Der junge Harry - als der Sir
     Henry damals bekannt war - hatte sich eine andere Beschäftigung
     gesucht: Er lernte, mit der wandelbaren Schönheit seiner Stimme und
     seines Körpers die Menschen zu erfreuen. Mit Matrosen fing er an,
     arbeitete sich hinauf zu jungen Adligen, die die Slums zu ihrem Vergnügen
     aufsuchten, und nach einem kurzen Ausflug in die Royal Navy - er
     behauptete, er habe seinen Platz dort durch Erpressung gewonnen - landete
     er schließlich am Theater. Kein Lebender kannte das ganze Spektrum
     von Shakespeares Figuren, von der Dirne bis zum König, wie er - das
     Chiaroscuro ihrer Moral, dieses Flackern zwischen Ruhm und Schmutz -, und
     vielleicht war das der Grund, dass er seine Rollen gerissener und mitfühlender
     spielte als sonst ein Schauspieler, den ich kannte.
    Dann hatte er sich vor über
     einem Jahrzehnt von der Bühne verabschiedet. Zum Ausnüchtern,
     wie er sagte. Um sich selbst zu konservieren, sagten andere. Was immer er
     tat, am Ende langweilte er sich, und nun kehrte er auf die Bühne zurück.
     Heute lehnte er die größeren Rollen ab - Claudius, den
     Schurken, Polonius, den Narren - und widmete sich stattdessen den kleinen,
     feinen Rollen wie Hamlets Vater - geliebt, verloren. Danach würde er
     sich an Prospero und Lear begeben, mit Regisseuren, deren Ruf ebenso
     illuster war wie seiner. Aber zuerst hatte er beschlossen, um sich an die
     Rolle des Eider Statesman zu gewöhnen, als Geist in meinem Stück
     aufzutreten. Eine Wahl, die mich immer noch in Staunen versetzte.
    Die Cleopatra korrigierte
     ihren Kurs, und ihr Bug hob sich mit zunehmendem Tempo aus dem Wasser. Ich
     sah noch einmal zurück. An der Leiter war niemand zu sehen, und das
     Ruderboot war wieder an der Mauer vertäut. Hatte ich mir nur
     eingebildet, dass es sich bewegte?
    Doch dann entdeckte ich einen
     Schatten in der Mauernische am oberen Ende der Leiter. Mein Magen zog sich
     zusammen. Es war jemand dort. Wer? Und was hatte er vorgehabt?
    Hinter mir zerriss ein tiefes
     Stöhnen die Nacht, und als ich mich umblickte, musste ich Zusehen,
     wie am anderen Ufer das Globe in einer Rauchwolke verschwand. Als ich zum
     Nordufer zurückblickte, war der Schatten wieder mit der Nacht
     verschmolzen.

 
    3
    Unwillkürlich glitt
     meine Hand in die Jackentasche. Die Schachtel war noch da. Ich zitterte,
     obwohl der Wind wärmer wurde, je näher wir ans Südufer
     kamen. Über dem Wasser hing ein dichter Nebel aus Rauch und Dampf. In
     meinem Kopf stand das Globe so hell wie immer da, ein kleines weißes
     Cottage am Ufer, in sich geschwungen wie ein schlafender Schwan. Ein
     absurdes Bild natürlich, angesichts des Feuers. Das Theater war groß
     genug, um sechzehnhundert Zuschauer zu fassen, und in seiner künstlichen
     Altertümlichkeit sahen viele mehr Kitsch als Charme darin. Disneys
     Shakespeareland, wie Ros es nannte. Bis heute Nachmittag hatte sie sich
     geweigert, auch nur einen Fuß in das Remake des alten Theaters zu
     setzen.
    Wenn es um Shakespeare ging,
     lag Ros nur selten falsch, doch beim Globe Theatre irrte sie sich. Ob sie
     wollte oder nicht, es ging eine seltsame Kraft von seiner Bühne aus.
     Im Globe erwachten Shakespeares Worte zum Leben, mit einer geradezu
     magischen Intensität.
    Tuckernd näherten wir
     uns dem Pier. Um uns wogte der Nebel, dann gab er die Sicht auf Cyril
     Cunningham frei, den Intendanten, der wie ein ramponierter Storch am Dock
     auf und ab stelzte. »Alles hin«, krächzte er, als wir auf
     den Steg kletterten. »Alles verloren.«
    Vor mir blieb Sir Henry wie
     versteinert stehen, und ich spürte, wie meine Hoffnungen starben.
     Dann hob

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