Die Shakespeare-Morde
»Ich
dachte, du wärest drüben im Theater gewesen.«
»Wie kommst du darauf?«
Sir Henry zog mich neben sich auf die Bank.
»Ich habe die Sirenen
gehört. Am Telefon.«
Er schüttelte den Kopf.
»Seit einer Stunde heult in ganz London jede Sirene, mein Kind.
Nein, ich war flussaufwärts, auf einer gnadenlos langweiligen Soiree.
Am Ende war es ein glücklicher Zufall«, sagte er mit einem
Blick hinauf zur Menge auf der Brücke. »Die meisten Leute
vergessen es, aber der Fluss ist immer noch die schnellste Straße
durch die Stadt.«
Als nach dem Zweiten
Weltkrieg der Handel auf der Themse zum Erliegen kam, hatte Sir Henrys
Vater zu trinken begonnen. Nach einer Endlosschleife von Reue und Wut
hatte er seinem Unglück schließlich eines Nachts ein Ende
gesetzt und sich im Fluss ertränkt. Der junge Harry - als der Sir
Henry damals bekannt war - hatte sich eine andere Beschäftigung
gesucht: Er lernte, mit der wandelbaren Schönheit seiner Stimme und
seines Körpers die Menschen zu erfreuen. Mit Matrosen fing er an,
arbeitete sich hinauf zu jungen Adligen, die die Slums zu ihrem Vergnügen
aufsuchten, und nach einem kurzen Ausflug in die Royal Navy - er
behauptete, er habe seinen Platz dort durch Erpressung gewonnen - landete
er schließlich am Theater. Kein Lebender kannte das ganze Spektrum
von Shakespeares Figuren, von der Dirne bis zum König, wie er - das
Chiaroscuro ihrer Moral, dieses Flackern zwischen Ruhm und Schmutz -, und
vielleicht war das der Grund, dass er seine Rollen gerissener und mitfühlender
spielte als sonst ein Schauspieler, den ich kannte.
Dann hatte er sich vor über
einem Jahrzehnt von der Bühne verabschiedet. Zum Ausnüchtern,
wie er sagte. Um sich selbst zu konservieren, sagten andere. Was immer er
tat, am Ende langweilte er sich, und nun kehrte er auf die Bühne zurück.
Heute lehnte er die größeren Rollen ab - Claudius, den
Schurken, Polonius, den Narren - und widmete sich stattdessen den kleinen,
feinen Rollen wie Hamlets Vater - geliebt, verloren. Danach würde er
sich an Prospero und Lear begeben, mit Regisseuren, deren Ruf ebenso
illuster war wie seiner. Aber zuerst hatte er beschlossen, um sich an die
Rolle des Eider Statesman zu gewöhnen, als Geist in meinem Stück
aufzutreten. Eine Wahl, die mich immer noch in Staunen versetzte.
Die Cleopatra korrigierte
ihren Kurs, und ihr Bug hob sich mit zunehmendem Tempo aus dem Wasser. Ich
sah noch einmal zurück. An der Leiter war niemand zu sehen, und das
Ruderboot war wieder an der Mauer vertäut. Hatte ich mir nur
eingebildet, dass es sich bewegte?
Doch dann entdeckte ich einen
Schatten in der Mauernische am oberen Ende der Leiter. Mein Magen zog sich
zusammen. Es war jemand dort. Wer? Und was hatte er vorgehabt?
Hinter mir zerriss ein tiefes
Stöhnen die Nacht, und als ich mich umblickte, musste ich Zusehen,
wie am anderen Ufer das Globe in einer Rauchwolke verschwand. Als ich zum
Nordufer zurückblickte, war der Schatten wieder mit der Nacht
verschmolzen.
3
Unwillkürlich glitt
meine Hand in die Jackentasche. Die Schachtel war noch da. Ich zitterte,
obwohl der Wind wärmer wurde, je näher wir ans Südufer
kamen. Über dem Wasser hing ein dichter Nebel aus Rauch und Dampf. In
meinem Kopf stand das Globe so hell wie immer da, ein kleines weißes
Cottage am Ufer, in sich geschwungen wie ein schlafender Schwan. Ein
absurdes Bild natürlich, angesichts des Feuers. Das Theater war groß
genug, um sechzehnhundert Zuschauer zu fassen, und in seiner künstlichen
Altertümlichkeit sahen viele mehr Kitsch als Charme darin. Disneys
Shakespeareland, wie Ros es nannte. Bis heute Nachmittag hatte sie sich
geweigert, auch nur einen Fuß in das Remake des alten Theaters zu
setzen.
Wenn es um Shakespeare ging,
lag Ros nur selten falsch, doch beim Globe Theatre irrte sie sich. Ob sie
wollte oder nicht, es ging eine seltsame Kraft von seiner Bühne aus.
Im Globe erwachten Shakespeares Worte zum Leben, mit einer geradezu
magischen Intensität.
Tuckernd näherten wir
uns dem Pier. Um uns wogte der Nebel, dann gab er die Sicht auf Cyril
Cunningham frei, den Intendanten, der wie ein ramponierter Storch am Dock
auf und ab stelzte. »Alles hin«, krächzte er, als wir auf
den Steg kletterten. »Alles verloren.«
Vor mir blieb Sir Henry wie
versteinert stehen, und ich spürte, wie meine Hoffnungen starben.
Dann hob
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