Die Shakespeare-Morde
unförmiges Gebilde von links vorbei, was
bedeutete, dass die Flut eingesetzt hatte. Ich kämpfte gegen den
Schwindel an, als ich still stehen blieb und den Blick über den Fluss
streifen ließ. Draußen, in der Mitte der Themse, wurde mit den
Lichtern der Stadt auch das Feuer gespiegelt und in Tausenden von Funken
gebrochen. Dann nahm ich noch eine Bewegung wahr. Sir Henrys Boot, das auf
dem Fluss kreuzte. Doch als ich schon erleichtert aufatmete, machte das
Boot plötzliche eine Wende, und ich erkannte die schwarz-weißen
Karos der Polizei am Bug. Nicht die Cleopatra. Das Boot rauschte davon und
verschwand unter der Millennium Bridge.
Als die Bugwelle die unterste
Sprosse überspülte und träge gegen die Mauer platschte, hörte
ich ein Geräusch. Ein Scharren, möglicherweise einen Schritt,
vom oberen Teil der Leiter. Wieder spürte ich Blicke im Rücken.
Vielleicht hatte Sir Henry am Steg angelegt, redete ich mir ein, und war
nun am Ufer auf der Suche nach mir. Ich drehte mich um.
Doch oben in der Mauernische
war nichts zu sehen bis auf flimmerndes Mondlicht. »Hallo?«,
rief ich. Ich bekam keine Antwort.
Plötzlich hörte ich
etwas, das ich aus dem Theater kannte: das kalte, scharfe Zischeln, wenn
eine Klinge aus der Scheide gezogen wurde.
Ich stieg eine Sprosse nach
unten. Dann noch eine. Die nächste Sprosse lag bereits unter Wasser.
Verzweifelt spähte ich
hinaus auf den Fluss. Kein Boot in Sicht. Wo zum Teufel blieb Sir Henry?
Warum war ich ganz allein an diesem gottverlassenen Ort? In New York oder
Boston wäre ich nie so dumm gewesen. Was zum Henker hatte ich mir bloß
gedacht?
Ich sah wieder nach oben. Ich
starrte in die Dunkelheit, doch wer immer dort war, er verhielt sich still
und regungslos - falls da überhaupt jemand war. Vielleicht spielten
mir meine Nerven einen Streich. Vielleicht auch nicht.
Im Augenwinkel sah ich eine
Bewegung unten am Wasser. Auf beiden Seiten glucksten Ketten an der Mauer.
Ein Stück links von mir war ein kleines Ruderboot festgemacht, das
sachte in den Wellen dümpelte. Wenn ich es dorthin schaffte, könnte
ich mich in Sicherheit bringen.
Dann sah ich, dass es nicht
vertäut war. Jemand musste die Leine gelöst haben, denn es
bewegte sich langsam an der Mauer entlang auf mich zu.
Panisch suchte ich die andere
Seite ab. Ich saß in der Falle. Der einzige Ausweg war der Fluss.
Ich starrte das Wasser direkt unter meinen Füßen an und fragte
mich, wie stark die Strömung war. Konnte ich ans andere Ufer
schwimmen? Oder wäre es besser, geräuschlos ins Wasser zu
gleiten und mich treiben zu lassen, bis ich die nächste Leiter in der
Mauer fand?
Ich warf einen Blick zurück.
Die Umrisse des Boots waren nur schwer auszumachen, doch was ich sah, genügte.
Es kam näher. Verzweifelt schaute ich mich auf den unteren Sprossen
der Leiter um und durchsuchte meine Taschen, doch ich fand nichts, das
sich im Entferntesten als Waffe benutzen ließ. Kein Stock oder loser
Stein war zu sehen, und in den Taschen hatte ich nichts als ein paar Münzen
und Ros’ goldene Schachtel. Ihr Geheimnis.
Pass gut darauf auf, hatte
sie gesagt. Meinte sie damit, dass die Schachtel in Gefahr war? Und ich
mit ihr, solange ich sie aufbewahrte?
Zur Hölle mit der
verdammten Schachtel.
Dann hörte ich ein
Knattern. Wie ein eleganter weißer Pfeil schoss ein privates
Motorboot unter der Millennium Bridge hervor. Die Cleopatra. Vorsichtig,
um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, hob ich den Arm und winkte steif.
Für einen langen Moment erhielt ich keine Antwort. Dann stand Sir
Henry an der Reling und winkte zurück.
Hinter mir war das Ruderboot
stecken geblieben; das Klatschen gegen die Bootswand hörte sich plötzlich
anders an. Dann kam die Cleopatra tuckernd näher und übertönte
jedes weitere Geräusch, bis Sir Henry den Motor zurückschraubte.
Im gleichen Moment hörte ich, wie die oberste Sprosse der Leiter
knarrte. Jemand war dort. Als ich mich umdrehte, sah ich Stahl aufblitzen.
Mit einem Sprung warf ich
mich über die Reling der Cleopatra und landete zu Sir Henrys Füßen
auf dem Deck.
»Alles in Ordnung mit
dir?«, rief Sir Henry.
Ich rappelte mich auf die Füße
und winkte ihm zu. »Los!« Sir Henry nickte dem Steuermann zu,
der den Rückwärtsgang einlegte. »Wo warst du denn?«,
rief ich keuchend, als das Boot die Mauer hinter sich ließ.
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