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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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sich der Nebel, und aus den Schwaden tauchte ein Brandmeister
     auf, mit rotem Helm und einer schweren blauen Jacke mit reflektierenden
     Streifen. »Ganz so schlimm ist es nicht«, brummte er, »aber
     ich kann auch nicht behaupten, dass es gute Nachrichten sind. Kommen Sie
     mit und sehen Sie selbst.«
    Eilig folgten wir ihm am Ufer
     entlang. Meine Gedanken wanderten durch die Dunkelheit zum Theater hinauf.
     Die Planer des neuen Globe hatten sich so weit wie möglich an
     Shakespeares Original gehalten. Sie hatten das Theater buchstäblich
     um die Bühne herum gebaut - eine große überdachte
     Plattform am Ende eines achteckigen Hofes unter freiem Himmel. Rings um
     den Hof erhoben sich die Ränge wie ein enges dreistöckiges
     Puppenhaus. Jedes Stockwerk war mit mehreren Reihen blanker Eichenbänke
     ausgestattet, von denen man über die Balustrade in den Hof und auf
     die Bühne blickte.
    Das ganze Bauwerk war von
     einer Schlichtheit, die die Shaker gutgeheißen hätten - bis auf
     die Bühne. Dort war jeder Zentimeter Holz und Putz aufwendig bemalt,
     um Marmor, Jaspis und Porphyr vorzutäuschen, und mit geschnitzten
     Karyatiden und vergoldeten Atlanten verziert. Ein baldachinartiges Dach,
     dessen Himmel mit Sternen bemalt war, schützte die Schauspieler vor
     Sonne und Regen. In der nordischen Mythologie wurde das Himmelsgewölbe
     von einer Esche getragen, und aus irgendeinem Grund gefiel mir der
     Gedanke, dass Shakespeares Himmel auf den Stämmen von zwei massiven
     englischen Eichen ruhte. Nicht dass sie als Eichen zu erkennen wären.
     Wie roter Marmor bemalt und verziert mit prächtigen Kapitellen
     erinnerten die »Säulen des Herakles« eher an einen der
     Tempel von Persepolis, bevor Alexander der Große die Stadt in Schutt
     und Asche legte.
    Was hatte das Feuer vom Globe
     übrig gelassen?
    Wir passierten ein Labyrinth
     von Polizeiabsperrungen und Notzelten und standen plötzlich vor einer
     großen Flügeltür. Ich runzelte die Stirn. Sie sah aus wie
     der Haupteingang des Theaters. »Alles andere mussten wir opfern«,
     erklärte der Brandmeister und strich zärtlich über den Türstock.
     »Verwaltung, Kasse, Cafeteria - das ganze Drum und Dran.« Dann
     sah er uns an, und in seinem roten, erschöpften Gesicht strahlte ein
     Anflug von Stolz. »Aber ich glaube, wir haben das Globe gerettet.«
    Gerettet?
    Der Brandmeister zog die Tür
     einen Spalt auf, gerade weit genug, um uns nacheinander hineinzulassen.
     Dann nickte er mir zu.
    »Nur Mut«, sagte
     Sir Henry und drückte meine Schulter. Ich schob mich durch den Spalt
     und trat vorsichtig durch das Foyer in den Hof wo ich wie versteinert
     stehen blieb. Ich hatte damit gerechnet, alles in Trümmern zu sehen,
     doch was vor mir lag, war von überirdischer Schönheit.
    Rauchfahnen kräuselten
     sich über der Bühne wie Luftschlangen. Die Säulen des
     Herakles glänzten schwarz von Ruß. Am Boden stand Wasser, eine
     schimmernde, spiegelglatte Fläche. Am Himmel über dem Hof
     funkelten die Sterne, als würde es glitzernde Blüten regnen. Das
     Theater war alles andere als eine Ruine. Es hatte sich in den
     unheimlichen, majestätischen Tempel einer dunklen Gottheit
     verwandelt. In einen Ort, wo Druiden und Geister verkehrten und Blutopfer
     dargebracht wurden. Durch die Luft schwebte ein Stück glimmendes
     Papier, und ich fing es auf - es war die halb verbrannte Seite eines
     Regiebuchs. Kein gutes Zeichen. Hastig stieg ich die Stufen zur unteren
     Galerie hinauf, wo ich meinen Arbeitsplatz hatte. Der Schreibtisch war
     umgefallen, und meine Bücher und Aufzeichnungen lagen am Boden
     verstreut. Irgendwie musste ein Funke hereingelangt sein, denn sie waren
     zur Hälfte verbrannt. Der Ordner mit dem Regiebuch lag offen da, die
     Ringe waren aufgesprengt. Die Seiten waren herausgefallen, durch die Luft
     gewirbelt und im Wasser gelandet. Hastig kniete ich mich hin und begann zu
     retten, was sich retten ließ. Weitere Papiere waren hinter den Tisch
     gerutscht. Auf allen vieren kroch ich hinterher, doch dann hielt ich inne
     und schnappte nach Luft.          
    Am Boden lag ein
     breitkrempiger Hut mit dunkelroten Pfingstrosen, die auf der weißen
     Krempe wie Blut wirkten. Ein Stück weiter, auf einer der Zuschauerbänke
     zusammengerollt, lag eine Frau. Sie sah aus, als schliefe sie, doch ihre
     Augen waren offen. Der Blick einer Statue, leer und intensiv zugleich, nur
     dass ihre Augen nicht aus Marmor waren. Sie waren

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