Die Shakespeare-Morde
mit dem Handrücken über die Augen. »Ich
stehe am falschen Ufer.«
»Herrgott noch mal.
Warte.« Er hielt das Telefon zu, und die Geräusche im
Hintergrund verschwammen.
Mit Anfang sechzig war Sir
Henry seit nunmehr drei Jahrzehnten ein prominentes Gesicht auf Bühne
und Leinwand. Im Zenit seiner Karriere hatte er Achilles, Alexander und
Artus gespielt, Ödipus, Cäsar und Hamlet. Er war ein Ästhet
der alten Schule mit einer Vorliebe für die Savile Row, Bentleys,
Chauffeure und Veuve Clicquot (»Wenn es um Champagner geht, können
die Zaren nicht falschgelegen haben«). Seine Kindheit hatte er in
raueren Verhältnissen verbracht, und bei Gelegenheit prahlte er mit
seiner Herkunft. Er war der Nachkomme von Themsenschiffern - die stämmigen
Arme seiner Väter hatten jahrhundertelang den Fluss durchpflügt,
hatten Güter und Menschen auf und ab und hin und her gefahren. In
seinen Adern fließe grüner Themsenschlamm, sagte Sir Henry gern
und griff dabei auf den breiten Dialekt der Docks seiner Jugend zurück.
Und nach ein paar Gläsern konnte er immer noch zuschlagen wie ein
Dockarbeiter.
Wir hatten uns vor sechs
Monaten kennengelernt, als ich das Angebot bekam, in einem kleinen Theater
an einer zweifelhaften Ecke des West End Regie zu führen, und sofort
zusagte. In letzter Minute hatte Sir Henry eingewilligt, für zwei
Wochen die Hauptrolle zu übernehmen, weil er dem Dramatiker
irgendeine Gefälligkeit schuldete. Nach wenigen Tagen begann er mich
»unser brillantes Kind aus Amerika« zu nennen, ein Titel, der
mich zum Stottern brachte, wenn er mich damit vorstellte - und dazu, mir
wahlweise Kaffee oder Wein über die Bluse zu schütten. Das Stück
war schlecht und blieb nur zwei Wochen auf der Bühne; doch drei Tage
später erhielt ich den Anruf vom Globe. Ich war mir sicher, dass ein
Zusammenhang bestand, doch Sir Henry wollte nicht zugeben, dass er die
Strippen gezogen hatte.
Jetzt war er wieder am
Apparat, und ich hörte ihn brüllen: »Was für ein
Quatsch. Ich habe euch gesagt, dass sie da ist… Tut mir leid«,
sagte er dann zu mir, und seine Stimme verwandelte sich von Stahl in
Seide. »Wie ich höre, sind die Brücken hoffnungslos
verstopft. Schaffst du es irgendwie hinunter zum Uferweg?«
»Wenn die Treppe unter
der Millennium Bridge dahin führt, ist es meine einzige Wahl.«
»Unter der -?…
Ausgezeichnet! Wenn du am Ufer bist, wende dich nach Osten. Die erste Lücke
in der Mauer führt zu einem alten Steg. Darling, die Cleopatra ist in
fünf Minuten da.«
»Die Cleopatra?«
»Mein neues Boot.«
*
Der Uferweg war düster
und menschenleer. Der Mond warf lange Schatten auf das Pflaster; das
Geschrei und der Lärm der Menge wirkten hier unten weit weg und
bedeutungslos. Ich wandte mich nach Osten. Mit der rechten Schulter
streifte ich die dicke Flussmauer, links zogen verhärmte graue Gebäude
an mir vorbei. Laternen in der Mauer verströmten gedämpftes
Licht. Ein Stück weiter ragte eine schmalere Mauer aus dem Damm. Ein
Treppchen führte in einen Puppengarten mit seltsam verkümmerten
Blumen. Rechts öffnete sich eine Lücke ins Nichts. Ich musste jähen
Widerwillen unterdrücken, als ich über den Rand blickte.
Feuchte, salzige Luft schlug
mir von unten entgegen. Ich wich schaudernd zurück. Falls dies die
richtige Stelle war, musste Sir Henry jeden Moment hier sein. Also zwang
ich mich, an der Kante stehen zu bleiben. Eine Holzleiter führte nach
unten, glitschig und mit schwarzen Algen bewachsen. Ein Geländer gab
es nicht. Ich hielt mich rechts und links an der Mauer fest und setzte den
Fuß auf die erste Sprosse. Das Holz knarrte, doch es trug mein
Gewicht. Ich warf einen Blick nach unten. Die Bolzen, mit denen die Leiter
an der Mauer befestigt war, schienen noch aus den Tagen der römischen
Kreuzigungen zu stammen. Von einem Steg war weit und breit nichts zu
sehen. Fünf Meter unter mir tauchte die Leiter ins Wasser.
Ich versuchte, über den
Fluss zum Südufer zu sehen. Etwa auf der Höhe des Globe glitt
ein Schatten über die dunkle Wasseroberfläche. Die Cleopatra? Es
musste ein Boot sein. Ja - es hielt direkt auf mich zu. Dies musste die
richtige Stelle sein.
Sprosse für Sprosse ließ
ich mich die rutschige Leiter hinunter, bis ich etwa einen Meter über
dem Fluss stand. Das Wasser war so glatt wie dunkles Glas. Hin und wieder
trieb ein stinkendes,
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