Die Shakespeare-Morde
grün.
»Ros«, stöhnte
ich.
Neben mir tauchte Sir Henry
auf, gefolgt von Cyril. Er schob mich zur Seite und legte ihr zwei Finger
an den Hals. Einen Augenblick später richtete er sich auf und schüttelte
den Kopf. Diesmal fehlten selbst Sir Henry die Worte.
Ros war tot.
4
Ein Seufzer, halb Weinen,
halb Lachen, brach aus mir heraus. An diesem Nachmittag war mir zum ersten
Mal aufgefallen, dass ich größer war als Ros. Jahrelang hatte
sie wie eine Riesin auf mich gewirkt. Jetzt, im Tod, schien sie so klein,
fast wie ein Kind. Wie konnte sie tot sein?
Sanft, aber bestimmt wurde
ich von ihr fortgezogen. »Kate«, sagte Sir Henry, und ich
merkte, dass er zum dritten Mal meinen Namen rief. Kurze Zeit später
saß ich im Hof des Globe auf der Treppe zur Bühne, den Kopf in
die Hände gestützt. Ich zitterte, obwohl ich eine Jacke trug.
Jemand hatte mir eine zweite Jacke, Sir Henrys, um die Schultern gelegt.
»Trink das«,
sagte Sir Henry und reichte mir seinen silbernen Flachmann. Der Whiskey
brannte in meiner Kehle, aber er half mir, allmählich wieder klarer
zu sehen. Auf der anderen Seite des Hofs hatte man ein weißes Laken
über die Tote gebreitet. In der unteren Galerie wimmelte es von Sanitätern,
Feuerwehrleuten und Polizei. Dann lösten sich zwei Männer aus
der Menge und kamen auf uns zu. Ihre Schritte plätscherten im Löschwasser,
das immer noch auf dem Hof stand. Ich erkannte Cyril an seinem Watscheln;
der andere Mann war ein Fremder. Er wirkte geschmeidig und ernst mit
seiner zimtfarbenen Haut der Karibik, dem glatt geschorenen Schädel
und den dunklen gebogenen Augenbrauen, die aussahen wie mit schwarzer
Tinte gezeichnet. Der Mann ging eine Liste auf einem Klemmbrett durch.
»Katharine J. Stanley«,
sagte er, als er am Fuß der Treppe stehen blieb. Es war eine
Feststellung, keine Frage.
Ich nickte.
»Detective Chief
Inspector Francis Sinclair«, stellte sich der Fremde vor. Seine
Stimme war klar, ein kühler Bariton, und seine Aussprache perfektes
BBC-Englisch, mit nur einem Hauch von karibischem Puls und Brixtoner Aufsässigkeit.
Er wandte sich wieder seinem Klemmbrett zu. »Sie führen derzeit
hier im Globe die Regie bei ›Hamlet‹, und Sie haben die
Leiche vor etwa zwanzig Minuten entdeckt, als Sie Ihre Papiere
durchgingen.«
»Ich habe Ros gefunden,
ja.«
Sinclair blätterte durch
seine Unterlagen. »Die Verstorbene hat sie am Nachmittag aufgesucht.«
»Ja, sie war hier«,
sagte ich ausdruckslos. »Wir haben uns unterhalten. Ich dachte, sie
wäre wegen Sir Henry gekommen. Ich wusste nicht, dass sie noch hier
war.«
Er blickte auf, und als er
Sir Henry neben mir erkannte, weiteten sich seine Augen einen kurzen
Moment. Dann wandte er sich wieder zu mir. »Haben Sie sie gut
gekannt?«
»Ja. Nein. Ich weiß
nicht.« Ich schluckte. »Das heißt, früher einmal,
ja. Aber ich habe sie drei Jahre nicht gesehen, bis heute Nachmittag. Was
ist geschehen?«
»Ihr Tod hatte nichts
mit dem Brand zu tun. So viel wissen wir. Wahrscheinlich Herzinfarkt oder
ein Schlaganfall. Es sieht so aus, als wäre sie sofort tot gewesen.
Mit Sicherheit, bevor der Brand ausbrach. Ein ungewöhnlicher Zufall,
und wir werden die Sache selbstverständlich untersuchen. Aber im
Moment spricht alles für einen natürlichen Tod.« Er sah
wieder in seine Notizen.
Meine Finger schlossen sich
um den Flachmann. »Das war kein Zufall.«
Sir Henry und Cyril, die sich
im Hintergrund unterhalten hatten, verstummten und starrten mich an.
Sinclairs Stift hielt mitten im Satz inne, doch er blickte nicht auf.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Sie kam zu mir, um mir
zu sagen, dass sie etwas entdeckt hatte«, erklärte ich. »Und
sie bat mich um Hilfe.«
Sinclair sah mich an. »Was
hat sie entdeckt?«
Die Schachtel in meiner
Jackentasche schien zum Leben zu erwachen. Ein Abenteuer, hatte Ros
gesagt. Und ein Geheimnis.
Er darf sie nicht haben,
schoss es mir mit plötzlicher Heftigkeit durch den Kopf.
Der Inspektor beugte sich zu
mir. »Was hat sie entdeckt, Ms Stanley?«
»Ich weiß es
nicht.« Die Lüge rutschte einfach so heraus. Ich hoffte, er sah
mir die Überraschung nicht an, und redete mir ein, dass ich nur die
Gelegenheit wollte, Ros’ Geschenk zu öffnen, einen letzten
Moment mit ihr allein zu haben. Aus Respekt vor ihrem Geheimnis. Dann,
falls es irgendetwas von Bedeutung wäre, würde ich
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