Die Shakespeare-Morde
vom Elfenbeinturm
ausgegeben werden. ›Cardenio‹, sagen Sie, wurde Ende 1612
zum ersten Mal aufgeführt. Das heißt nicht, dass es im gleichen
Jahr geschrieben wurde. Hier ist eine andere Möglichkeit: Oxford kann
1604 die Übersetzung von ›Don Quixote‹ in Auftrag
gegeben haben, oder er hat sie selbst angefertigt. Dann schrieb er das
halbe Stück - und starb. Ein paar Jahre später wird die Übersetzung
veröffentlicht. Noch später lassen seine Freunde und sein Sohn
das Stück von John Fletcher fertigstellen und bringen es genau im
richtigen Moment auf die Bühne, um Oxfords alten Feinden, den
Howards, die größten Unannehmlichkeiten zu bereiten.«
Ihre Stimme wurde samtig, und sie sah mich herausfordernd an. »Sie
wissen doch noch, dass sie Feinde waren?«
Dann wandte sie sich an Ben.
»Das Familienoberhaupt der Howards, der alte Graf von Northampton,
war ein Freund von Oxford und sein Cousin ersten Grades, doch als er damit
seine Haut retten konnte, beschuldigte er Oxford, kleine Jungs in den
Arsch zu ficken.«
»Athenaide«,
platzte ich heraus. »Das ist doch verrückt. Das ist alles reine
Spekulation. Statt eine gerade Linie zwischen zwei Punkten zu ziehen,
folgen Sie der windigen Spritztour eines betrunkenen Junikäfers.«
Sie rümpfte die Nase.
»Sie glauben also lieber, dass Shakespeares Stücke von einem
womöglich analphabetischen Provinzrüpel mit mangelhafter
Schulbildung geschrieben wurden, der sich die Feinheiten von Jura,
Theologie, höfischer Etikette, Geschichte, Botanik, Falknerei und der
Jagd aus den Fingern gesogen hat?«
Sie war wieder aufgestanden
und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei ihr Blick über die
Porträts der Höflinge an der Wand glitt. »›Ver‹
-ist der Wortstamm des lateinischen Worts für ›wahr‹.
Nahe genug an ›Vere‹ - dem Familiennamen der Grafen von
Oxford -, um zu einem der kindischen
Wortspiele zu taugen, die in der Renaissance so beliebt waren. Die Grafen
haben sich ›Verus nihil verius‹ als Motto ausgesucht. Zufälligerweise
auch mein Motto, denn ich bin eine geborene Dever - die Verballhornung von
de Vere: Der Name ziemte sich nicht für den Zweig der Familie, der außerhalb
des Ehebetts entstanden war. Mit meinem Taufnamen hat mein Vater noch eins
draufgesetzt. Athenaide. Eine Variation der helläugigen Athene,
Schild- und Speerträgerin.« Die letzten, genüsslich
vorgetragenen Worte waren an Ben gerichtet. »Der Graf von Oxford,
Champion auf den Turnierplätzen, soll unter Athenes Schutz gestanden
- und ihr sogar ähnlich gesehen haben. ›Seine Augen blitzen,
sein Blick schüttelt Speere.‹ Sie wissen, wer mit Schüttelspeer
gemeint ist?«
»Das ist eine Falschübersetzung,
und das wissen Sie auch«, sagte ich trotzig. »Vultus tela
vibrat: Der Blick blitzt, sprüht Nadeln.«
»Anscheinend kennen Sie
die Fakten«, sagte Athenaide bewundernd. »Doch auch Ihre
Übersetzung ist nicht ganz richtig. Sagen wir ›Pfeile schießem.
Bei Ihnen klingt es mehr nach einem Nähstübchen als nach einem
elisabethanischen Turnierplatz.«
»Schön. Aber er
schüttelt keine Speere.«
Sie zuckte die Achseln.
›»Telum‹ ist ein Überbegriff für
Wurfgeschosse, nicht der spezifische Begriff für ›Speer‹
oder ›Lanze‹ — na und? Aber ›vibrat‹ heißt
›er schüttelt. ›Vibrieren‹ kommt vom gleichen
Stamm. Darf ich Sie darauf hinweisen, dass man Pfeile nicht schüttelt?
Genauso wenig wie Nadeln? Speere und Lanzen werden geschüttelt. Oder
besser, Athene schüttelt ihren Speer, seit jemand vor fast
dreitausend Jahren die ersten homerischen Gesänge vortrug, wo die
grauäugige Göttin aus Zeus’ Kopf geboren wird und ihren
spitzen Speer schüttelt, bis der ganze Olymp erzittert, die Erde stöhnt
und die Wellen wild auf der weinroten See wogen.«
»Muss ein anstrengendes
Baby gewesen sein«, bemerkte Ben lakonisch, und ich musste ein
Kichern unterdrücken.
Athenaide ignorierte uns
beide. »Außerdem«, fuhr sie fort, »in
lateinisch-englischen Wörterbüchern der Renaissance konnte
›vultus‹ sowohl ›Blick‹ oder ›Ausdruck‹
als auch ›Wille‹ heißen. Was aus ›Vultus tela
vibrau‹ ›Der Wille schüttelt Speere‹ macht. Oder
›will shakes spears‹.« Sie sah uns triumphierend an.
»Wirklich?«,
fragte Ben.
»Wahrhaftig«,
sagte sie mit einem bösen Lächeln. »Ein kleines
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