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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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vom Elfenbeinturm
     ausgegeben werden. ›Cardenio‹, sagen Sie, wurde Ende 1612
     zum ersten Mal aufgeführt. Das heißt nicht, dass es im gleichen
     Jahr geschrieben wurde. Hier ist eine andere Möglichkeit: Oxford kann
     1604 die Übersetzung von ›Don Quixote‹ in Auftrag
     gegeben haben, oder er hat sie selbst angefertigt. Dann schrieb er das
     halbe Stück - und starb. Ein paar Jahre später wird die Übersetzung
     veröffentlicht. Noch später lassen seine Freunde und sein Sohn
     das Stück von John Fletcher fertigstellen und bringen es genau im
     richtigen Moment auf die Bühne, um Oxfords alten Feinden, den
     Howards, die größten Unannehmlichkeiten zu bereiten.«
     Ihre Stimme wurde samtig, und sie sah mich herausfordernd an. »Sie
     wissen doch noch, dass sie Feinde waren?«
    Dann wandte sie sich an Ben.
     »Das Familienoberhaupt der Howards, der alte Graf von Northampton,
     war ein Freund von Oxford und sein Cousin ersten Grades, doch als er damit
     seine Haut retten konnte, beschuldigte er Oxford, kleine Jungs in den
     Arsch zu ficken.«
    »Athenaide«,
     platzte ich heraus. »Das ist doch verrückt. Das ist alles reine
     Spekulation. Statt eine gerade Linie zwischen zwei Punkten zu ziehen,
     folgen Sie der windigen Spritztour eines betrunkenen Junikäfers.«
    Sie rümpfte die Nase.
     »Sie glauben also lieber, dass Shakespeares Stücke von einem
     womöglich analphabetischen Provinzrüpel mit mangelhafter
     Schulbildung geschrieben wurden, der sich die Feinheiten von Jura,
     Theologie, höfischer Etikette, Geschichte, Botanik, Falknerei und der
     Jagd aus den Fingern gesogen hat?«
    Sie war wieder aufgestanden
     und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei ihr Blick über die
     Porträts der Höflinge an der Wand glitt. »›Ver‹
     -ist der Wortstamm des lateinischen Worts für ›wahr‹.
     Nahe genug an ›Vere‹ - dem Familiennamen der Grafen von
     Oxford -, um zu einem der kindischen
     Wortspiele zu taugen, die in der Renaissance so beliebt waren. Die Grafen
     haben sich ›Verus nihil verius‹ als Motto ausgesucht. Zufälligerweise
     auch mein Motto, denn ich bin eine geborene Dever - die Verballhornung von
     de Vere: Der Name ziemte sich nicht für den Zweig der Familie, der außerhalb
     des Ehebetts entstanden war. Mit meinem Taufnamen hat mein Vater noch eins
     draufgesetzt. Athenaide. Eine Variation der helläugigen Athene,
     Schild- und Speerträgerin.« Die letzten, genüsslich
     vorgetragenen Worte waren an Ben gerichtet. »Der Graf von Oxford,
     Champion auf den Turnierplätzen, soll unter Athenes Schutz gestanden
     - und ihr sogar ähnlich gesehen haben. ›Seine Augen blitzen,
     sein Blick schüttelt Speere.‹ Sie wissen, wer mit Schüttelspeer
     gemeint ist?«
    »Das ist eine Falschübersetzung,
     und das wissen Sie auch«, sagte ich trotzig. »Vultus tela
     vibrat: Der Blick blitzt, sprüht Nadeln.« 
    »Anscheinend kennen Sie
     die Fakten«, sagte Athenaide bewundernd. »Doch auch Ihre
     Übersetzung ist nicht ganz richtig. Sagen wir ›Pfeile schießem.
     Bei Ihnen klingt es mehr nach einem Nähstübchen als nach einem
     elisabethanischen Turnierplatz.«
    »Schön. Aber er
     schüttelt keine Speere.«
    Sie zuckte die Achseln.
     ›»Telum‹ ist ein Überbegriff für
     Wurfgeschosse, nicht der spezifische Begriff für ›Speer‹
     oder ›Lanze‹ — na und? Aber ›vibrat‹ heißt
     ›er schüttelt. ›Vibrieren‹ kommt vom gleichen
     Stamm. Darf ich Sie darauf hinweisen, dass man Pfeile nicht schüttelt?
     Genauso wenig wie Nadeln? Speere und Lanzen werden geschüttelt. Oder
     besser, Athene schüttelt ihren Speer, seit jemand vor fast
     dreitausend Jahren die ersten homerischen Gesänge vortrug, wo die
     grauäugige Göttin aus Zeus’ Kopf geboren wird und ihren
     spitzen Speer schüttelt, bis der ganze Olymp erzittert, die Erde stöhnt
     und die Wellen wild auf der weinroten See wogen.«
    »Muss ein anstrengendes
     Baby gewesen sein«, bemerkte Ben lakonisch, und ich musste ein
     Kichern unterdrücken.
    Athenaide ignorierte uns
     beide. »Außerdem«, fuhr sie fort, »in
     lateinisch-englischen Wörterbüchern der Renaissance konnte
     ›vultus‹ sowohl ›Blick‹ oder ›Ausdruck‹
     als auch ›Wille‹ heißen. Was aus ›Vultus tela
     vibrau‹ ›Der Wille schüttelt Speere‹ macht. Oder
     ›will shakes spears‹.« Sie sah uns triumphierend an.
    »Wirklich?«,
     fragte Ben.
    »Wahrhaftig«,
     sagte sie mit einem bösen Lächeln. »Ein kleines
    

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