Die Shakespeare-Morde
dem Mann, den Sie hier auf dem Bild
sehen, verfasst worden«, erklärte sie, »Edward de Vere,
der 17. Graf von Oxford.« Dann sah sie mich mit hellen trotzigen
Augen an. »Katharine meint, dass ich eine Ketzerin bin.«
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Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber Sie haben es
gemeint«, entgegnete sie. »Wie schnell wir vom Lob bei der
Verdammung landen, wenn es um Glaubensfragen geht.«
Ich wollte protestieren, doch
Athenaide ließ mich nicht zu Wort kommen. »Shakespeare, Mr
Pearl, ist nicht nur Kunst. Er ist Religion.«
»Und Wissenschaft«,
gab ich zurück, »die auf Beweisen fußt.«
»Und Sie sind die
Beweise durchgegangen? Alle?« Athenaide sah Ben an. »Die
Stratfordianer leiten Universitäten und Institutionen wie diese. Und
die Universitäten verwalten die Wahrheit. Doch Lücken werden
dort nicht unterrichtet, genauso wenig wie die Beweise, die eine andere
Geschichte erzählen. Die Institutionen beschließen, was die
Wahrheit ist.«
»Das ist nicht fair.«
»Wirklich nicht?«
Ich stöhnte. »Ich
hätte es mir denken können. Ihre Faszination für ›Hamlet‹.
Und Helsingor.«
»Ja, Helsingor«,
wiederholte sie zufrieden. »Oxford - der echte Hamlet, in Helsingor,
in Shakespeare.«
Ben sah von ihr zu mir.
»Der echte Hamlet?«
»Die Oxfordianer lesen
›Hamlet‹ als die verdeckte Autobiografie des Grafen von
Oxford«, erklärte ich.
»Sie enttäuschen
mich«, sagte Athenaide. »Wer hat denn geschrieben: ›Die
vielen seltsamen Parallelen zu Oxfords Leben, die ›Hamlet‹
aufweist, sind tatsächlich ein eigenes Studium wert.‹?«
Ich zuckte zusammen. Sie
zitierte aus meiner Doktorarbeit. Als sie sagte, sie kenne meine Arbeit,
hatte ich gedacht, sie würde von meiner Regiearbeit sprechen. Niemand
las Doktorarbeiten, nicht einmal stolze Mütter. »Ich sagte, es
gibt Parallelen, Athenaide. Das ist etwas anderes, als zu behaupten, es wäre
seine Autobiografie.«
»Wie hätte es der
lumpige Sohn eines Handschuhmachers aus Stratford wagen können, eine
der höchsten Persönlichkeiten des Königreichs vorzuführen?
Und woher sollte er die Details kennen?«
»Jeder kannte die
Details. Genau wie heute jeder die traurigen Details aus Michael Jacksons
Leben kennt. Die Reichen und Berühmten haben immer im Rampenlicht
gestanden, und manche tragen ihr Leben offen zur Schau. Viel interessanter
ist das Warum. Warum wollen Sie - oder sonst jemand - den Mann, dessen
Name auf den Titelblättern steht, unbedingt durch Oxford ersetzen?«
»Weil die Stücke
wichtiger sind als die Titelblätter«, sagte sie schlicht.
»Der Mann, der die Stücke schrieb, hatte eine gründliche,
umfassende klassische Ausbildung, und er hatte Zugang zur hohen Literatur.
Außerdem hatte er eine aristokratische Haltung und aristokratische
Hobbys wie das Jagen und die Falknerei. Er kannte das Landleben aus der
Perspektive der Landbesitzer. Er misstraute Frauen, liebte Musik,
verachtete Habgier. Er kannte die Feinheiten der englischen Gesetzgebung
und die Feinheiten des Segelns und der Navigation. Er verstand Italienisch
und sprach fließend Französisch und Latein. Und vor allem, er
lebte und atmete Dichtung. Soweit wir nachweisen können - nicht
anhand von Annahmen, die wir aus den Stücken ziehen, sondern anhand
der dokumentierten Fakten seines Lebens -, besaß William Shakespeare
aus Stratford keine dieser Eigenschaften. Ergo hat er die Stücke
nicht geschrieben.« Triumphierend setzte sie sich in einen Sessel
unter der blinden Fensterreihe. »Oxford dagegen besitzt jede
einzelne dieser Eigenschaften.«
»Nur eine nicht«,
konterte ich. »Er starb zehn Jahre zu früh. Wir sind auf der
Suche nach ›Cardenio‹, Athenaide. Ein Stück, das 1612
geschrieben wurde. Wie konnte ein Mann, der - wann starb? 1605? -«
»1604.«
»Wie konnte ein Mann,
der 1604 starb, 1612 ein Stück geschrieben haben? Und Sie lassen
nicht nur ›Cardenio‹ sausen. ›Macbeth‹, ›Othello‹, ›König
Lear‹, ›Der Sturm‹, ›Ein Wintermärchen‹,
›Antonius und Kleopatra‹ - so ziemlich alle Stücke
unter Jakob I. wären dahin. Das ist eine Menge Holz, das Sie
eintauschen wollen, nur um einen Grafen zum Autor zu haben.«
»Daten«, sagte
Athenaide und zuckte verächdich die Achseln. »Es wäre eine
schwache Theorie, wenn sie nur wegen ein paar Daten nichtig würde.
Vor allem, wenn sie so wackelig sind wie die, die
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