Die Shopping-Prinzessinnen
Gastronomen. Bis zu einem Jahr im Voraus muss man bei ihm reservieren, so lang sind die Wartelisten.
»Da soll mir noch mal einer was vom Grafen von Monte Christo erzählen«, flüsterte ich leicht nervös.
»Ich finde es noch viel unheimlicher«, meinte Evie. »Mich erinnert es an das Phantom der Oper.«
»Ich find’s romantisch«, erklärte Caprice. »Hier könnte sich d’Artagnan mit der Zofe von Queen Anne zum Stelldichein verabredet haben, wisst ihr? Wie in diesem Film.«
Evie hatte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Wein zugewandt. »Oh mein Gott! Chassagne-Montrachet!« Sie griff nach der Flasche und zog. Dann geschah etwas völlig Unerwartetes.
Ein lautes Klicken ertönte, dann ein Zischen von entweichender Luft. Das Weinregal wich nach hinten zurück und gab den Zugang zu einem weiteren Raum frei.
Niemand sagte etwas, sogar die Hunde verstummten. Wir standen alle nur da und starrten in die schwarze Höhlung. Allmählich schien Licht ins Dunkel zu sickern, und ich erkannte eine schwarze Gestalt …
»Hiiiilfe!«, schrie ich.
»Was ist denn los?«, fragte Evie.
»Ich habe was gesehen! Da ist jemand!«
Evie griff in die Öffnung und knipste das Licht an. Was wir sahen, ließ unseren Atem stocken. Aber es war kein Mensch, was da vor uns stand. Es war eine Schneiderpuppe.
Der Raum, in dem wir uns befanden, sah völlig anders aus als die vorhergehenden. Die Wände waren nicht gekalkt oder staubig, sondern mit glänzenden weißen Kacheln bedeckt. Von der Decke hingen
starke Lampen herunter. Ein großer Zuschneidetisch und ein Schreibtisch beherrschten den Raum. Dahinter waren Hunderte von Zeichnungen, Modefotos und Zeitungsausschnitte zu sehen. Vieles sah aus, als stammte es aus den Vierzigerjahren. Die Stoffe und die Applikationen, die auf dem großen Tisch lagen, schienen aber brandneu.
»Evie! Schau nur!«, sagte ich und streichelte einen seidigen Samtballen.
»Oh mein Gott!«, jubelte Evie, während sie die Kleiderständer durchwühlte, die im hinteren Teil des Raums standen. »Girlies! Schaut mal die Kleider an! Da ist ja eins fantastischer als das andere!« Sie war wie ein Kind im Süßwarenladen, das gar nicht wusste, wonach es zuerst greifen sollte.
»Da sind gar keine Etiketten dran«, meinte Caprice und warf mir einen verblüfften Blick zu. »Man weiß gar nicht, welche Marke das ist.«
»Vielleicht ist es gar keine Marke«, vermutete ich. »Vielleicht ist es ein ganz unabhängiger Designer.«
»Imogene, in diesem Raum ist bestimmt schon seit Jahren kein Mensch mehr gewesen. Wer immer das geschaffen hat, ist längst gestorben. Muerto! So einen Künstler wird man vielleicht nie wieder finden.«
Ich trat an den Schreibtisch. Vielleicht gab es ja dort einen Hinweis. Es gab zahlreiche Fachbücher über die hohe Kunst der Couture, vom Spitzenklöppeln bis zur Lingerie. Es gab eine schöne Sammlung von Stoffproben in allen Farben und Qualitäten, und auf dem Schneidetisch lagen Garnrollen und Scheren in allen Größen und Formen. Ein Skizzenbuch und Fotokopien von Zeichnungen erweckten meine besondere Aufmerksamkeit. Das war das Lookbook des Unbekannten! Ich griff danach und blätterte darin, erst nur aus Neugier, dann, weil ich hoffte, einen Hinweis auf den Besitzer zu finden.
»Wenn ich’s nicht besser wüsste«, rief Evie über die Kleiderständer hinweg, »dann würde ich sagen, diese Entwürfe sind das Werk von Yves Montrachet. Vielleicht sollte das seine letzte Kollektion werden.«
»Montrachet?!«, riefen Caprice und ich gleichzeitig.
Yves Montrachet war nicht nur der ungewöhnlichste Fashiondesigner auf diesem Planeten, sondern auch ein exzentrischer Bilderstürmer gewesen, ein Renaissancemensch, der mehr als siebzig Patente auf die verschiedensten Webmaschinen und komplexe Technologien besaß, so dass er ohne finanzielle Sorgen seine Karriere als Modeschöpfer verfolgen konnte. Es hieß, er habe eine mittelalterliche Webtechnik
wiederentdeckt, deren Geheimnisse in den Archiven des Vatikans ruhten. Sein Verderben war sein Gerechtigkeitswahn. Nach einem spektakulären Schadensersatzprozess gegen die Firma DuPar, das angesehenste Pariser Modehaus in den Neunzigerjahren, wurde DuPar dazu verurteilt, eine Strafe von über drei Millionen Francs zu zahlen, weil sie einen Anzugschnitt von ihm kopiert hatten – und außerdem noch 30000 Francs für jeden Anzug, den sie verkauft hatten. Aber die Branche nahm Rache: Montrachet wurde aus der Chambre Syndicale ausgeschlossen und durfte seine
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