Die sieben Finger des Todes
er:
»Zwischen dem Schlafzustand Ihres Vaters und dem Schwester Kennedys besteht große Ähnlichkeit. Welchen Einfluß immer die Ursache sein mag, er ist in beiden Fällen auf gleiche Weise wirksam geworden. Im Falle der Schwester ist das Koma weniger ausgeprägt. Ich werde das Gefühl nicht los, daß wir bei ihr mehr tun können und vor allem rascher als bei diesem Patienten, da bei ihr unsere Hände nicht gebunden sind. Ich habe sie in Zugluft gelegt, und sie weist bereits Anzeichen, wenn auch nur sehr schwache, einer gewöhnlichen Bewußtlosigkeit auf. Die Starre der Glieder läßt nach, die Haut scheint mir empfindlicher – oder besser gesagt weniger unempfindlich – gegen Schmerz.«
»Wie kommt es dann«, fragte ich, »daß Mr. Trelawny sich noch immer im Zustand der Gefühllosigkeit befindet, wenn doch soweit wir wissen, sein Körper diese Starre gar nicht aufweist?«
»Diese Frage kann ich nicht beantworten. Vielleicht werden wir das Problem in wenigen Stunden lösen können. Oder in wenigen Tagen. Doch wird es für uns alle eine nützliche Lektion im Stellen von Diagnosen sein! Vielleicht sogar für sehr viele, die nach uns kommen – wer weiß?« setzte er mit dem echten Feuer der Begeisterung hinzu.
Im Laufe des Morgens flitzte er ständig zwischen den beiden Krankenzimmern hin und her und überwachte gewissenhaft beide Patienten. Er ließ Mrs. Grant bei Schwester Kennedy bleiben, während Miß Trelawny und ich, meist aber beide, bei dem Verwundeten blieben. Und irgendwie schafften wir es, daneben ein Bad zu nehmen und uns anzukleiden. Während wir frühstückten blieben der Doktor und Mrs. Grant bei Mr. Trelawny.
Sergeant Daw machte sich auf den Weg zu Scotland Yard, um von den nächtlichen Vorgängen Bericht zu erstatten, sodann zur zuständigen Polizeistation, um sich, wie mit Dolan besprochen, die Mitarbeit seines Kollegen Wright zu sichern. Bei seiner Rückkehr wurde ich den Eindruck nicht los, daß ihm ordentlich die Leviten gelesen worden waren, weil er in einem Krankenzimmer geschossen hatte, oder gar, weil er ohne ausreichenden Grund überhaupt geschossen hatte. Seine diesbezügliche Bemerkung brachte Licht in die Sache:
»Ein guter Charakter gilt also doch noch etwas, egal was immer behauptet wird. Sehen Sie, ich darf meine Dienstwaffe weiterhin tragen.«
Dieser Tag sollte sich in die Länge ziehen und viel Bangigkeit mit sich bringen. Gegen Abend hatte sich Schwester Kennedys Zustand so weit gebessert, daß die Starre der Gliedmaßen verschwunden war. Ihr Atem kam ruhig und gleichmäßig. Doch der starre Gesichtsausdruck, der ja sehr ruhig gewirkt hatte, war schlaffen Lidern gewichen und anderen, weniger auffälligen Anzeichen tiefen Schlafes. Doktor Winchester hatte zwei weitere Krankenschwestern ins Haus gebracht, von denen die eine bei Schwester Kennedy wachte, während die andere sich mit Miß Trelawny abwechselte, die darauf bestanden hatte, wach zu bleiben. Als Vorbereitung auf die Nachtwache hatte sie nachmittags mehrere Stunden geschlafen. Wir alle hatten beratschlagt und hatten uns geeinigt, wie die Wache bei Mr. Trelawny ablaufen sollte. Mrs. Grant sollte bis zwölf beim Patienten bleiben, worauf Miß Trelawny sie ablösen würde. Die neue Krankenschwester sollte in Miß Trelawnys Zimmer bleiben und im Krankenzimmer viertelstündig Nachschau halten. Der Doktor wurde bis zwölf eingeteilt, sodann sollte ich ihn ablösen. Einer der Detektive hatte Auftrag, sich die ganze Nacht über in Rufweite des Zimmers aufzuhalten und in gewissen Abständen nachzusehen, ob alles in Ordnung wäre. Auf diese Weise würden die Bewacher bewacht. Und die Möglichkeit solcher Ereignisse wie tags zuvor, als die Nachtwachen überlistet wurden, war vermieden.
Bei Sonnenuntergang wurden wir alle von einer seltsamen und tiefgreifenden Bangigkeit erfaßt. Und jeder bereitet sich auf seine Weise auf die Nachtwache vor. Doktor Winchester war mein Atemgerät nicht aus dem Kopf gegangen, denn er sagte, er wolle sich auch eines besorgen. Ja, er stand der Idee so wohlwollend gegenüber, daß ich Miß Trelawny überredete, sich ebenfalls ein solches zu verschaffen, das sie anlegen konnte, wenn ihre Wache gekommen war.
Und so zog die Nacht sich hin.
5. KAPITEL
WEITERE SONDERBARE ANWEISUNGEN
Um halb elf verließ ich mein Zimmer und fand im Krankenzimmer alles normal vor. Die neue Krankenschwester saß adrett, aufrecht und aufmerksam in dem Sessel neben dem Bett, in dem nachts zuvor Schwester
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