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Die sieben Finger des Todes

Die sieben Finger des Todes

Titel: Die sieben Finger des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bram Stoker
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Kennedy gesessen hatte. Ein Stück weiter, zwischen Bett und Safe, saß wach und ebenso aufmerksam, aber fremd und fast komisch aussehend mit dem Atemgerät über Mund und Nase, Dr. Winchester. Während ich so in der Tür stand und die Szene überblickte, hörte ich eine leises Geräusch. Mich umwendend sah ich den neuen Detektiv, der mir, den Finger an die Lippen gelegt und mir Schweigen gebietend, zunickte und sich sofort leise zurückzog. Bislang war also keiner der Wachen vom Schlaf übermannt worden.
    Ich setzte mich in einen Sessel vor der Tür. Noch brauchte ich mich nicht dem Risiko auszusetzen, wieder unter denselben heimtückischen Einfluß wie letzte Nacht zu geraten. Natürlich drehten sich meine Gedanken um die wichtigsten Ereignisse des vorangegangenen Tages und der Nacht, und ich ertappte mich bei sonderbaren Schlußfolgerungen, Zweifeln, Annahmen. Doch verlor ich mich nicht wie gestern in weitführenden Gedankengängen. Niemals verlor ich das Gefühl für die Gegenwart und fühlte mich stets so, wie sich ein wachhabender Posten fühlen sollte. Das Denken an sich ist kein langsamer Vorgang. Und wenn es ernstes Nachdenken ist, kann die Zeit sehr rasch verfliegen. Mir schien, als wäre ganz kurze Zeit vergangen, als die Tür, die für gewöhnlich nur angelehnt war, geöffnet wurde und Dr. Winchester, sein Atemgerät abnehmend, herauskam. Dieser Handgriff unterstrich seine Wachheit. Er drehte die Außenhülle um und roch sorgfältig daran.
    »Ich gehe jetzt«, sagte er. »Frühmorgens komme ich wieder, falls ich nicht vorher gerufen werde. Aber heute scheint alles in Ordnung.«
    Als nächstes erschien Sergeant Daw, der leise das Zimmer betrat und den Sitz des Doktors einnahm. Ich blieb noch draußen, blickte aber in Abständen von wenigen Minuten ins Krankenzimmer. Dies war zwar eher eine Formsache, als daß es etwas nützte, denn im Zimmer war es so finster, daß man auch trotz des einfallenden Lichtes, aus dem schwach erleuchteten Korridor kaum etwas unterscheiden konnte.
    Kurz vor zwölf kam Miß Trelawny aus ihrem Zimmer. Ehe sie zu ihrem Vater hineinging, betrat sie das Zimmer, in dem Schwester Kennedy lag. Nach kurzer Zeit kam sie wieder heraus, mit etwas zuversichtlicherer Miene, wie mir schien. Ihr Atemgerät trug sie in der Hand. Ehe sie es aufsetzte, fragte sie mich, ob sich etwas Außergewöhnliches ereignet hätte. Ich antwortete im Flüsterton – denn im ganzen Haus wurde heute kein lautes Wort gesprochen –, daß alles sicher und in Ordnung wäre. Da setzte sie das Atemgerät auf und ich das meine, so betraten wir den Raum. Der Detektiv und die Krankenschwester standen auf, so daß wir deren Plätze einnehmen konnten. Sergeant Daw ging als letzter hinaus. Wie verabredet schloß er hinter sich die Tür.
    Eine Weile saß ich still und mit Herzklopfen da. Es herrschte fast absolute Finsternis. Das schwache, zur Decke gerichtete einzige Licht, das die Ränder des Lampenschirms smaragdgrün färbte, schien die Schwärze des Schatten nur noch zu unterstreichen. Und diese Schatten schienen wie letzte Nacht zu einem eigenen Willen zu erwachen. Ich spürte nicht die Spur von Schläfrigkeit, und jedesmal wenn ich leise ans Krankenbett trat – etwa im Abstand von zehn Minuten –, sah ich, daß auch Miß Trelawny ebenso hellwach war. Viertelstündlich warf einer der Polizeibeamten einen Blick durch die vorsichtig geöffnete Tür. Jedesmal äußerten Miß Trelawny und ich hinter unseren Atemmasken hervor »alles in Ordnung«, und die Tür wurde wieder geschlossen.
    Mit dem Vergehen der Zeit war mir, als würden Stille und Dunkelheit zunehmen. Der Lichtkreis an der Zimmerdecke war zwar noch vorhanden, jedoch weniger hell als zuvor. Auch das Grün des Lampenschirms schien stumpfer. Die nächtlichen Geräusche außerhalb des Hauses und die hellen Ränder entlang der Fensterrahmen machten die Schwärze noch feierlicher und geheimnisvoller.
    Wir hörten die Uhr draußen auf dem Gang alle Viertelstunden silberhell schlagen, bis zwei Uhr. Dann aber wurde ich von einem sonderbaren Gefühl übermannt. Miß Trelawny drehte sich um und ließ erkennen, daß auch sie etwas spürte. Der neue Detektiv hatte eben einen Blick zu uns hereingeworfen. Wir zwei würden mit dem bewußtlosen Patienten eine weitere Viertelstunde ganz allein bleiben.
    Ich hatte rasendes Herzklopfen und bekam es mit der Angst zu tun. Nicht um meinetwillen, meine Angst war unpersönlich. Mir war, als hätte eine neue Person den Raum betreten

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