Die sieben Finger des Todes
ratlos! Alles ist so schrecklich!«
Sie verlor die Fassung und fing zu weinen an. Ich versuchte, ihr Trost zuzusprechen.
Dr. Winchester war rasch zur Stelle. Sein erster Gedanke galt natürlich seinem Patienten. Als er jedoch festgestellt hatte, daß diesem nichts weiter zugestoßen war, ging er hinüber zu Schwester Kennedy. Was er da sah, machte ihn sehr zufrieden. Er tauchte den Zipfel eines Handtuchs in kaltes Wasser und schlug damit sacht gegen ihr Gesicht. Die Haut rötete sich, die Schwester rührte sich. Leise sagte er zur neuen Schwester – er nannte sie Schwester Doris: »Es geht ihr gut. Sie wird spätestens in ein paar Stunden erwachen. Sie wird vielleicht verwirrt und ein wenig konfus sein, vielleicht sogar hysterisch. Wenn ja, dann wissen Sie, wie Sie sie behandeln müssen.«
»Ja, Doktor«, gab Schwester Doris gehorsam zurück. Wir gingen daraufhin zurück zu Mr. Trelawny. Bei unserem Eintreten gingen Mrs. Grant und die Schwester hinaus, so daß nur Doktor Winchester, Miß Trelawny und ich im Zimmer blieben. Kaum war die Tür geschlossen, fragte mich Doktor Winchester, was eigentlich passiert wäre. Ich erstattete Bericht, und gab alle Einzelheiten getreulich wieder, soweit ich mich daran erinnern konnte. Er unterbrach mich immer wieder mit Fragen, die mir jedoch unwichtig schienen. Als ich geendet hatte, sagte er mit großer Entschiedenheit zu Miß Trelawny: »Miß Trelawny, ich glaube, wir sollten zu diesem Fall ein Konsilium einberufen.«
Ihre Antwort kam ohne Zögern, was ihn zu wundern schien: »Ich bin froh, daß Sie darauf zu sprechen kommen. Ich bin einverstanden. Und wen schlagen Sie vor?«
»Denken Sie an jemand bestimmten?« fragte er darauf. »Jemanden der Ihren Vater kennt? Hat er jemals einen Arzt konsultiert?«
»Meines Wissens nicht. Aber sicher werden Sie die bestmögliche Wahl treffen. Mein teurer Vater soll an Hilfe bekommen, was nötig ist. Wer ist der beste Mann in London – der beste überhaupt – für einen Fall wie diesen?«
»Da gäbe es einige sehr gute. Allerdings sind sie über die ganze Welt verstreut. Zum genialen Gehirnspezialisten muß man geboren sein, das läßt sich nicht erlernen, wenn es auch harter Arbeit bedarf, bis die Ausbildung beendet ist und man praktizieren darf. Diese Experten stammen aus allen Windrichtungen. Der kühnste ist bislang Chiuni, der Japaner. Bei ihm handelt es sich aber eher um einen experimentierfreudigen Chirurgen als um einen Praktiker. Dann wäre da noch Zammerfest aus Uppsala und Fenelon von der Pariser Universität, sodann Morfessi aus Neapel. Dazu natürlich unsere eigenen Leute, beispielsweise Morrison aus Aberdeen und Richardson aus Birmingham. Aber über sie alle stelle ich Frere vom King’s College. Er ist nämlich derjenige, der von den Erwähnten am besten Theorie und Praxis vereint. Er geht total in seinem Beruf auf und verfügt über immense Erfahrung. Wir alle, die wir ihn bewundern, bedauern, daß seine guten Nerven und seine sichere Hand ein Opfer der Zeit wurden. Was mich betrifft, so würde ich lieber Frere hier haben als jeden anderen.«
»Dann ziehen wir also Doktor Frere hinzu«, entschied Miß Trelawny nachdrücklich. »Ist er übrigens Doktor oder Mister? Er soll so rasch als möglich kommen.«
Es war, als würde dem jungen Arzt eine große Last abgenommen, denn er sprach viel ruhiger und gelockerter, als er sagte:
»Nein, sondern Sir James Frere. Ich werde selbst zu ihm gehen und ihn bitten, er solle kommen.« Und zu mir gewandt setzte er hinzu: »Lassen Sie sich Ihre Wunde verbinden.«
»Ach was, da ist doch nichts.«
»Die Wunde müßte versorgt werden. Jede von einem Tier stammende Kratzwunde könnte gefährlich werden. Sicher ist sicher.«
Ich gab also nach, und er machte sich daran, die Wunde zu untersuchen. Mit einem Vergrößerungsglas begutachtete er die parallelen Kratzwunden und verglich sie mit dem Krallenmuster auf dem Löschpapier, das er aus der Tasche holte. Er steckte das Papier mit der einfachen Bemerkung zurück:
»Ein Jammer, daß Silvio immer dann herein- und wieder hinausschlüpft, wenn er es partout nicht sollte.«
Der Vormittag schleppte sich dahin. Um zehn Uhr hatte sich Schwester Kennedy so weit erholt, daß sie sich aufsetzen und verständlich reden konnte. Ihre Gedanken aber waren noch wirr. Auch konnte sie sich nicht erinnern, was sich am Abend zuvor, nachdem sie ihren Platz am Krankenbett eingenommen hatte, zugetragen hatte. Sie wußte es nicht, und es schien ihr
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