Die sieben Häupter
Eulenruf verhieß einen nahenden Tod. Sie schüttelte sich. Sie hatte andere Sorgen als die Prophezeiungen einer Eule. Und außerdem, wenn der Mond sich verhüllen konnte, ohne daß die Welt unterging, dann brauchte auch ein Eulenruf nichts Böses zu bedeuten. Ludger hatte behauptet, der Mond sei nicht verhext. Aber sie war sich da nicht so sicher. Hatte sich seitdem nicht ein Unglück an das andere gereiht? War nicht seither alles schiefgegangen? Ihre Pläne, ihre Zuversicht, alles war anders gekommen, als sie es sich vorgestellt hatte. Roswitha stemmte die Hände in die Hüften und atmete tief durch. Was nun? Dort oben in der Burg, im Schutz der Mauern, hatte sie noch genau gewußt, wohin sie gehen wollte. Hier draußen, umgeben von Geräuschen, die in der Nacht besonders laut und bedrohlich klangen, sah alles anders aus. Sollte sie zur Burg Anhalt gehen, in die Höhle des Löwen, und Ludger dort erwarten? Wenn er denn überhaupt dorthin zurückkäme. Ginge es nach ihrem Herzen, hätte sie sich sofort auf den Weg gemacht, zu Fuß, ohne Mantel, ohne Proviant,wie weit der Weg auch sein mochte. Doch es ging nicht nach ihrem Herzen, mahnte sie sich, nie war es danach gegangen. Nein, sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen, an der sie bislang gescheitert war. Diese mußte sie weiterverfolgen.
Doch sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu Ludger zurück. Wohin mochten die Entführer ihn gebracht haben? Es war alles ihre Schuld, sie hatte ihn verraten – es schnürte ihr die Kehle zu. Er würde ihr zürnen, denn natürlich wußte er um ihren Verrat, niemand sonst konnte es gewesen sein. Und träfe sie ihn tatsächlich, wie würde er sie empfangen? Ja, wie sollte sie ihm überhaupt gegenübertreten? In diesen Kleidern, Frauenkleidern, die ihr am Körper herunterhingen? So, wie er sich ihrer erinnerte, mußte sogar der unbedarfte Ludger Verdacht schöpfen. Sie lachte, es hallte dumpf zwischen den Bäumen und klang selbst in ihren Ohren unheimlich. Was nun sollte sie tun, wohin sich wenden? Ihre Gedanken rasten. Zwei Säckchen hatte sie gefunden, aber das richtige war nicht dabeigewesen. Ein Pferdchen und irgendwelche Bröckchen waren die magere Beute. Ihr blieb nichts anderes übrig, als wieder von vorn zu beginnen. Sie brauchte Ludger. Sie wußte nicht, wo er war, konnte nur damit rechnen, daß er früher oder später zum Grafen von Anhalt käme. Wenn, ja, wenn der Graf tatsächlich das Lösegeld bezahlte und wenn Ludger dann auch wirklich wohlbehalten zurückkehrte. Ein wenig viel der Wenns.
Roswitha zuckte zusammen. Was war das? Sie kauerte sich enger an den Baumstamm. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Ein Pferd schnaubte, ganz in der Nähe. Schon hörte sie die Hufe, gedämpft durch den belaubten Boden, aber doch deutlich. Roswitha hielt den Atem an und versuchte, an dem Stamm vorbeizulugen und zu erkennen, wer sich da mitten in der Nacht im Wald herumtrieb. Kein Mond, keine Sterne sandten ihr Licht zu Hilfe, undurchdringlich war die Finsternis.Das Klappern der Hufe kam näher. Er sieht mich genausowenig wie ich ihn. Dieser Gedanke beruhigte Roswitha. Vielleicht drohte ja auch keine Gefahr, sondern winkte Hilfe. Immerhin hatte der Reiter ein Pferd, könnte sie mitnehmen. Doch die Wahrscheinlichkeit, daß hier ein hilfsbereiter Ritter seinen Weg querfeldein durch den Wald suchte, in unmittelbarer Nähe einer Straße, eines Dorfes, einer Burg, das war doch zu unwahrscheinlich.
Ein heftiges Knacken neben ihr, ein Schnauben, ein schrilles Wiehern. »Verdammtes Vieh.«
Sie hörte, wie der Reiter auf den Boden sprang, unmittelbar neben ihrem Baum. Sie konnte einen Schattenriß erkennen, der sich bückte. Wahrscheinlich hatte sich das Pferd am Huf verletzt. Ein schabendes Geräusch, Schnauben, erneutes Wiehern. »Verdammt, verdammt, verdammt. Fahr zum Teufel, zur Hölle. Da ist er ja, warum nicht gleich.« Etwas fiel auf den Boden, und sie hörte eine Hand die Kruppe des Pferdes tätscheln. «Alles ist gut, mein Alter, alles ist gut.«
Roswitha überlief eine Gänsehaut. Nicht wegen der Flüche, die an sich schon schlimm genug waren, nein, wegen der schrecklichen Vertrautheit der Stimme, die sie ausstieß. Bernhard von Aken, ihr Geliebter, ihr zukünftiger Ehemann, er war der letzte, den sie zu treffen erwartet hatte. Was tat er hier? Suchte er sie etwa? War er in Sorge, weil sie ihm keine Nachricht gegeben hatte? Beinahe hätte sie laut gelacht. Bernhard, in Sorge, über sie.
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