Die sieben Häupter
Anschließend würde ihr die Leiter dazu dienen, von der Mauerkrone hinabzusteigen. Die erste Schwierigkeit bestand jedoch schon darin, daß die Leiter schwerer und zugleich kürzer war, als Ethlind gedacht hatte. Es ging um wenige Handbreit. Sie hievte das Gestell auf den Rand des Gerüsts, beugte sich, so weit es irgend ging, vor und ließ die Leiter langsam nach vorne kippen. Doch sie kam nicht weit, ihre Arme waren zu kurz, das Gewicht der Leiter drohte sie vom Gerüst zu ziehen. Also ließ sie los und betete. Das Holzgestell knallte auf die Mauerkrone, sprang hoch und schien zur Seite zu kippen, doch mit einem beherzten Griff faßte Ethlind das andere Ende und schaffte es, das Umkippen abzuwenden, ohne selbst vom Gerüst zu fallen. Die Brücke hielt. Vorerst. Erneut horchte Ethlind, ob das Aufschlagen der Leiter jemanden geweckt und alarmiert hatte. Von Hagatheos Seite hatte sie nichts zu befürchten, der war verschollen, wie sie dem Gespräch der beiden Mönche entnommen hatte. Doch ob der Abt sich noch im Kloster aufhielt, konnte sie nicht sagen. Vielleicht war er mit dem Slawen davongeritten, um den Handel auszuführen, für den er über Leichen gegangen war. Womöglich aber schaute der Greif just in diesem Augenblick mit seinen blinden Fledermausaugen auf sie hinab und hatte seine Häscher bereits ausgesandt.
Langsam kroch sie vorwärts, auf allen vieren über die erstenSprossen, den Blick starr geradeaus gerichtet. Nur nicht nach unten schauen! Ihr Herz raste, der Atem stockte, die Leiter bog sich und wackelte, doch sie ging nicht entzwei und blieb an Ort und Stelle. Nach einer Ewigkeit erreichte Ethlind die Mauerkrone, setzte sich rittlings darauf und blickte auf die andere Seite. Ein Schrecken fuhr ihr in die Glieder, als sie erkannte, daß die Mauer auf der Flußseite wesentlich höher war als auf der Klosterseite. Wie hätte sie das auch ahnen sollen! Mit allerletzter Kraftanstrengung zog sie die Leiter vom Gerüst, einen Augenblick lang sah es aus, als entgleite ihr das Gestell, doch dann hievte sie es auf die Mauer und ließ es auf der anderen Seite hinabgleiten. Das Ende baumelte immer noch ein gutes Stück über der Erde. Sei’s drum, dachte sie und ließ los. Die Leiter schoß zu Boden, wankte und fiel dann gegen die Mauer. Sie stand zwar schräg, aber sie stand. Allerdings befand sich die oberste Sprosse so weit entfernt, daß Ethlind sie mit den Füßen nicht erreichte. Zum Umkehren war es nun zu spät. Sie mußte sich von der Mauerkrone hängen lassen. Wieder verfluchte sie ihre Kleidung, doch zu ihrer eigenen Überraschung schaffte sie es. Sie setzte den Fuß auf, lockerte den Griff der Hände … und dann fiel sie.
Ethlind stieß einen Schrei aus und stürzte zu Boden. Der Aufprall nahm ihr die Luft, und erst dann spürte sie den Schmerz im rechten Knie. Heiße Schauer fuhren ihr vom Bein über das Becken in den Rücken. Um nicht abermals laut zu schreien, biß sie in das Holz der Leiter, die auf ihr gelandet war. Der Schmerz ließ langsam nach, doch sie war nicht in der Lage, das Bein zu bewegen. Flußabwärts, nur einen guten Steinwurf entfernt, sah sie die Brücke, die Nienburg mit Grimschleben verband, doch in diesem Augenblick schien sie Ethlind unerreichbar. Auf zwei Händen und einem Bein kroch sie an der Mauer entlang nach Norden. Bei jeder Berührung schoß ihr der Schmerz ins Knie, doch sie biß die Zähne zusammen und gab nicht auf. Aus einemBoot, das am Ufer der Bode vertäut war, entwendete sie ein Paddel, das sie als Krücke benutzte, und so gelangte sie schließlich humpelnd zur Brücke und von dort nach Grimschleben.
Sie war entkommen, aber noch längst nicht am Ziel.
Ethlind wußte nicht, wie lange sie schon unterwegs war. Fünf Tage? Eine Woche? Einen Teil des Weges hatte sie sogar zweimal gehen müssen. Bei einem Bauern in Wulfen hatte sie um Milch und Brot gebeten und war auf der Schwelle des Hauses vor Erschöpfung zusammengebrochen. Als sie wieder erwachte, lag sie auf einem Pferdekarren und hörte die Räder über eine Brücke rattern. Auf dem Kutschbock hockte der Bauer und sagte mitfühlend: »Wir sind gleich da.«
»Wo?«
»In guten Händen.«
»Wie heißt dieser Ort?«
»Grimschleben«, antwortete der Bauer. »Das Kloster ist gleich dort drüben. Im Hospital wird es dir besser gehen.«
Der gutmeinende Bauer traute seinen Augen nicht, als das Mädchen trotz seiner Verletzung und geschwächten Verfassung wie eine Irre vom Wagen sprang und sich seitwärts in
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