Die siebte Maske
würde das Gleichgewicht verlieren. Trotz ihrer Zerbrechlichkeit, der durchscheinenden Blässe ihres Gesichts wirkte ihr Körper kraftvoll. Einen Moment lang sah es so aus, als wolle sie aus dem Zimmer fliehen, davonlaufen vor der Notwendigkeit, ihren Standpunkt zu verfechten. Aber dann setzte sie sich hin, verschränkte die Hände vor den Knien und senkte den Kopf, wobei ihr Haar nach vorn hinabfiel. Eine Weile saß sie so da, wie eine Statue des Schmerzes, dann hob sie den Kopf und sah Mike wieder an.
»Tony kann Walter nicht getötet haben«, sagte sie. »Walter ist nämlich gar nicht ermordet worden. Er hat Selbstmord begangen.«
»Ich muß schon sagen, Mrs. Haven –«
»Walter hat sich selbst getötet. Ich habe ihn im Arbeitszimmer gefunden, ich habe es gesehen.«
»Es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt für Selbstmord –«
»Nein, denn ich habe alles entfernt, was darauf hindeutete.«
Auf einmal herrschte so große Stille im Raum, daß Mike eine Uhr ticken hörte. Er hatte bis jetzt gar nicht gewußt, daß sich eine Uhr im Raum befand.
»Adrienne …«
Ihr Vater stand im Türrahmen. In seinem Gesicht waren Sorgenfalten eingegraben, die Mike beim Essen nicht bemerkt hatte.
»Alles in Ordnung, Kind?« fragte Kyle.
»Ja«, flüsterte Adrienne. »Mir geht’s gut, Daddy.«
»Wir haben uns gerade über juristische Probleme unterhalten«, sagte Mike. Er beobachtete Kyle, wie er sich seiner Tochter näherte, wie seine Hand zitterte in dem Verlangen, sie zu trösten.
»Du siehst nicht gut aus, Adrienne, viel zu blaß. Du regst dich doch nicht etwa zu sehr auf?«
»Nein, Daddy, es ist alles in Ordnung.«
Aber jetzt rannen Schweißperlen ihr Gesicht hinab, und ihre Hände begannen zu flattern. Mike sagte: »Kann ich mich irgendwie nützlich machen, Mrs. Haven? Vielleicht sollte ich Louise rufen …«
»Ich weiß, was mit ihr zu geschehen hat«, entgegnete Kyle ein wenig scharf. »Liebes, du hast doch deine Pillen eingesteckt?«
»Ja, Daddy«, flüsterte Adrienne. Ihre Augen waren trüb geworden. Sie ließ zu, daß ihr Vater in ihrer perlenbestickten Handtasche herumkramte und die Pillendose zum Vorschein brachte. »Tut mir leid«, wandte sie sich mit erzwungenem Lächeln an Mike. »Ich bekomme manchmal diese – Schwächeanfälle. Gleich ist es wieder vorbei.«
»Ich bringe dich nach Hause«, erklärte Kyle fest. »Ich glaube, da gehörst du jetzt hin.«
»Nein, Daddy, wirklich –«
»Wer ist hier der Arzt, Kind?« fragte Kyle. »Wer ist der Arzt im Haus?«
»Daddy, du bist der Doktor«, sagte Adrienne folgsam.
Mike bat Nancy, auf der Heimfahrt das Steuer zu übernehmen, und da wußte sie gleich Bescheid.
»Du grübelst über etwas nach«, sagte sie. »Es ist immer dasselbe. Wenn du über etwas nachgrübelst, muß ich fahren.«
Mike grinste. »Denken und lenken paßt nicht zusammen.«
»Ich dachte, trinken und lenken –«
»Läuft auf dasselbe hinaus. Beides beeinträchtigt das Reaktionsvermögen.«
»Mike, du hast mit Adrienne Haven gesprochen, nicht wahr?«
»Ja. Hast du denn nicht durchschaut, was Louise im Sinn hatte? Sie hat dieses Gespräch bewußt arrangiert.«
»Und was wollte sie? Wieder dasselbe?«
»Ja. Ich soll Tony Jerricks Verteidigung übernehmen.«
»Und was will Tony Jerrick?«
»Das weiß ich noch immer nicht. Aber jedenfalls ist sie mit einer Information herausgerückt. Sie hat mir anvertraut, warum sie so sicher ist, daß Jerrick ihren Mann nicht ermordet hat.«
»Und?«
»Weil er nämlich«, erläuterte Mike grimmig, »weil er nämlich gar nicht ermordet wurde.«
»Aber das ist doch lächerlich!«
»Genau meine Reaktion. Sie scheint sich einzureden, daß Haven Selbstmord begangen hat.«
»Aber hast du nicht gesagt, daß man am Tatort keine Waffe gefunden hat?«
»Es gab überhaupt keinen Anhaltspunkt für einen Selbstmord. Keinen Abschiedsbrief, keine Waffe und, soviel ich weiß, kein Motiv.«
»Wie kann sie dann so einen Unsinn behaupten? Ein Mann kann sich doch nicht erschießen und hinterher die Waffe beiseite schaffen.«
»Stimmt. Aber jemand anders könnte das.«
»Jemand anders?«
»Adrienne Haven behauptet, es gab Hinweise auf einen
Selbstmord, als sie damals das Arbeitszimmer betrat. Aber sie hat das Beweismaterial entfernt.«
»Aber warum denn?«
»Mehr hat sie mir nicht gesagt. Bevor sie weitersprechen konnte, kam ihr Vater herein. Vielleicht hätte sie sowieso nicht weitergeredet. Sie hat ziemlich krank ausgesehen.«
Nancy biß sich auf
Weitere Kostenlose Bücher