Die Siechenmagd
Gleich bin ich dal , denkt sie erwartungsvoll, als sie durch die Alte Mainzergasse in Richtung Main eilt. Es ist noch gar nicht richtig hell, die roten Laternen an den beiden städtischen Frauenhäusern sind noch schwach am Leuchten. Martha wird bestimmt noch schlafen, sie ist ja eine richtige Langschläferin… Vor lauter Vorfreude bemerkt sie kaum, dass sie inzwischen vom Regen vollkommen durchnässt ist. Es ist ihr richtig flau im Magen und je näher sie dem Main kommt, desto größere Galoppsprünge veranstaltet ihr Herz.
An den Abortbuden angelangt, sieht sie sich erst einmal genau um, bevor sie sich zaghaft bemerkbar macht, indem sie mehrfach halblaut nach den Freunden ruft und dabei vorsichtig gegen die Bretterwand klopft. Doch niemand antwortet ihr und nichts regt sich hinter den Verschlägen. Schließlich öffnet sie nach und nach die Türen sämtlicher Aborthäuschen und späht angespannt ins Innere. Weder der Fuchs, noch seine Gesellen sind da, auch ihre Sachen sind nirgendwo zu sehen! Diese Erkenntnis ereilt sie wie ein Keulenschlag, sie spürt Panik, Verzweiflung und bittere Enttäuschung in sich aufsteigen. Das kann doch nicht wahr sein, er hat doch gesagt, sie warten hier auf mich! Ein ganz fieses Gefühl in ihrem Bauch sagt ihr überdeutlich, dass hier etwas nicht stimmt. Doch momentan herrscht in ihrem Inneren das reinste Chaos. Was soll sie jetzt nur tun? Erschöpft und mutlos kauert sie sich trotz des starken Regens auf den aufgeweichten Boden. Sie schlottert am ganzen Leib und fühlt sich unsagbar verloren. Da nimmt sie plötzlich aus ihren Augenwinkeln eine Bewegung um sich wahr, der sie folgt: Aus einem alten Fass am Mainkai schält sich langsam und schwerfällig, untermalt mit schwerem Ächzen und Fluchen, ein alter, einbeiniger Bettler. Mühevoll richtet er sich mit Hilfe eines Krückstocks auf, ergreift einen schmutzigen, zerlumpten Umhang aus der Fassöffnung, der ihm wohl über Nacht als Decke gedient hat, wirft ihn sich über die gebeugten Schultern und will, ohne dabei Mäu auch nur eines Blickes zu würdigen, seiner Wege ziehen. Mäu springt auf und eilt zu ihm hin.
„Gevatter, könnt Ihr mir sagen, wo die jungen Leut hin sind, die hier die ganze Zeit bei den Abtrittbuden kampiert haben?“, fragt sie den Alten mit gehetztem Gesichtsausdruck.
„Die sind nicht mehr da“, antwortet der Greis einsilbig, mit mürrischer Miene und humpelt stur weiter.
„Das kann doch gar nicht sein! Seit wann sind sie denn fort? So sagt es mir doch, ich bitt Euch!“, stammelt Mäu, die kreidebleich geworden ist.
„Jetzt halt mich bloß nicht auf mit deinen blöden Fragen, Jungfer! Die sind halt weg, sind weitergezogen. Fahrende muss man ziehen lassen! Wenn du das noch nicht gewusst hast, dann weißt du es jetzt. Sind gestern in der Früh nicht mehr da gewesen. Heute hier, morgen da, wie das bei solchen Leuten üblich ist, wenn sie vom Fernweh gepackt werden. Weiß auch nicht, wo die hin sind. Ist mir auch wurscht egal! Und jetzt lass mich endlich meiner Wege ziehen, sonst komm ich noch um meine Armenspeisung am St. Leonhardsstift!“, quengelt der Alte ärgerlich mit verkniffenem, zahnlosem Mund und gesenktem Blick. Mäus Ausfragerei scheint ihm wenig zu behagen. Deutlich erinnert er sich noch an die verzweifelten, wütenden Schreie der jungen Bagage, als sie von dem Bettelmeister und seinen Leuten gestern in der Früh weggeführt worden sind. Die fremden Sterzer sind ganz schön malträtiert worden von der Bettelpolizei. Und der Sterzermeister, dieser verdammte Lumpendackel, hat ihm dann noch gehörig eingebläut, nur bloß übet alles sein Maul zu halten. Er wird also den Teufel tun, und der jetzt irgendetwas erzählen!
Mäu hat resigniert und lässt den alten Griesgram weiterhumpeln. Inmitten des strömenden Regens bleibt sie einfach stehen und weint hemmungslos. Irgendwann geht sie weiter, mit leerem Blick und hängenden Schultern. Wie eine Schlafwandlerin läuft sie durch die Alte Mainzergasse. Die Glieder sind ihr bleiern schwer und sie fühlt sich so müde und kraftlos, wie nie zuvor in ihrem Leben. Am liebsten würde sie in den Main springen!
Inzwischen ist Mäu wieder an dem Frauenhaus angelangt, in dem Martha ihre Heimstatt hat. Sie bleibt stehen und überlegt, ob sie nicht reingehen soll, um sich bei der Muhme Beistand zu holen, den sie momentan bitter nötig hat. Im nächsten Moment öffnet sich das Portal des Frauenhauses und eine dunkle Gestalt schlüpft nach draußen. Der lange,
Weitere Kostenlose Bücher