Die Siechenmagd
unbedenklich. Als sie sich an jenem regnerischen Aprilabend dem abgelegenen, baufälligen Haus nähern, herrscht dort bereits ein reger Andrang von Fahrenden, die Schutz vor dem unfreundlichen Aprilwetter und eine Unterkunft für die Nacht suchen. Die kleine Reisegruppe betritt die überfüllte Schankstube und die Schausteller begrüßen Ursel, die Wirtin, die hinter der Theke steht und Brot aufschneidet. Ursel ist eine stattliche Erscheinung mit markanten Gesichtszügen und klugen, wachsamen Augen. Inmitten des lauten Trubels strahlt sie eine unerschütterliche Ruhe aus und weist den Neuankömmlingen gemächlich einen Tisch in der Ecke zu, an dem noch ein paar freie Plätze sind. Kurze Zeit später kehrt die Wirtin an den Tisch zurück und bringt den Neuankömmlingen ein paar Krüge mit frisch gezapftem Bier. Anschließend erkundigt sie sich nach dem Wohlergehen ihrer Gäste, wobei sie die drei Schaustellerbuben liebevoll knufft.
„Na, ich bring euch nachher erst mal ein paar Teller von meiner guten Kartoffelsuppe. Wo macht ihr eigentlich dieses Jahr hin?“, setzt sie fragend hinzu.
„Wir wollen erst mal in die Berliner Ecke, dann sehn wir weiter“, antwortet Hannes.
„Und du, gehst du mit nach Berlin?“, wendet sich die Wirtin an Mäu.
„Ich will eigentlich nach Prag“, entgegnet Mäu zurückhaltend.
„Prag ist eine schöne Stadt. Da war ich auch schon ein paarmal. Ich hab da eine Freundin wohnen, die betreibt unten an der Moldau eine Badestube. Wenn du willst, kann ich dir nachher die Adresse geben, die Josepha nimmt auch Logisgäste auf“, erwidert Ursel und entfernt sich wieder in Richtung Schanktisch.
In der Kneipe befinden sich Fahrende aus den unterschiedlichsten Gewerben.
Viele kennen sich untereinander und die Wirtsstube ist erfüllt von lautem Stimmengemurmel und herzhaftem Gelächter. Es wird gezecht, palavert und an einigen Tischen spielt man Karten oder würfelt. Die Wirtin scheint mit den meisten ihrer Gäste gut vertraut zu sein, setzt sich zwischendurch zu manchen an den Tisch und plaudert mit ihnen. Mäu fühlt sich wohl unter all den Vaganten hier und entspannt sich zunehmend. Interessiert schaut sie sich um, betrachtet sich ein wenig die Leute und bemerkt, wie ein neuer Gast die Schankstube betritt. Er ist völlig durchnässt, denn draußen schüttet es inzwischen wie aus Kübeln. Als er sich der Feuerstelle nähert, um sich seiner nassen Sachen zu entledigen, erkennt Mäu in ihm den fahrenden Scharlatan „Leo der Regenmacher“, der sich häufig im Frankfurter Galgenviertel aufhält. Unwillkürlich durchfährt sie ein ordentlicher Schreck, denn seit ihrer Flucht ist Frankfurt für sie immer mehr zu einem unseligen, gefahrvollen Ort geworden, untrennbar verquickt mit ihrer verhängnisvollen Tat, und Leo war ihr sowieso noch nie ganz geheuer. Am liebsten wäre sie bei seinem Anblick auch sogleich unter den Tisch gekrochen, um sich zu verbergen. Doch zu spät, denn er hat sie inzwischen ebenfalls bemerkt.
„Ach, guck mal da! Die Mäu aus Frankfurt! So klein ist die Welt!“, posaunt Leo durch die ganze Kneipe und geht zielstrebig auf Mäu zu. Ungefragt zwängt er sich einfach neben sie auf die Sitzbank und schwadroniert weiter drauflos:
„Mensch, dass du dich überhaupt noch unter die Leute traust, bei dem was du angestellt hast! Aber alle Achtung, das hätt ich dir ja gar nicht zugetraut, dass du so rabiat werden kannst. Ja, meine Gute, du bist in Frankfurt inzwischen eine richtige Berühmtheit geworden. Stell dir vor, 100 Gulden sind auf deinen Kopf ausgesetzt worden! Soviel ist denen eine Abdeckertochter wert. Na ja, bist ja auch jetzt ein reiches Mädchen, mit dem ganzen Schmuck, den du dem alten Krüppel geklaut hast! Also komm, lass dich jetzt bloß nicht lumpen und geb mal einem alten Kumpel einen aus“, tönt er so laut und großmäulig, dass es durch die ganze Wirtschaft hallt. Von allen Tischen blickt man mit großen Augen auf Mäu, die kreidebleich geworden ist und offensichtlich in Grund und Boden versinken möchte.
„Nur ruhig Blut, Mädchen! Mit dem Schaumschläger werd ich schon noch fertig“, tönt es in resolutem Tonfall von der Theke her. Ursel füllt in aller Ruhe ein paar Bierkrüge, nimmt sie auf und verteilt sie an den Tischen. Dann geht sie auf den Regenmacher zu, schnappt ihn kurzerhand am Schlafittchen und zerrt ihn von der Bank hoch, bis er mit ihr auf einer Augenhöhe ist.
„Hey, du Windei, spuck hier nicht so große Töne und blaff gefälligst
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