Die Siechenmagd
unerträgliche Last von ihr abgefallen wäre. Die Schausteller wirken beunruhigt und ratlos. Doch schon bald scheint sich die pragmatische Lisbeth gefangen zu haben und beginnt damit, Mäu zu fragen, wie es dazu gekommen ist, dass sie jemanden getötet hat. Mäu antwortet ihr ehrlich und spart dabei nichts aus. Es tut ihr unsagbar gut, sich einmal alles von der Seele reden zu können, und sie berichtet, wie sie als Siechenmagd auf den Gutleuthof gekommen ist, spricht über Ulrich Neuhaus, ihren Dienstherrn, und wie es ihr bei ihm ergangen ist. Als sie geendet hat, haben sich die Mienen ihrer Zuhörer deutlich verändert, und es zeichnet sich zunehmend Verständnis darin ab.
„Ich muss ehrlich sagen: Bei diesem Schuft wäre ich auch zur Mörderin geworden!“, erwidert Lisbeth grimmig.
„Ja, und dann auch noch als Gesunde unter all diesen Aussätzigen! Das alleine kann einem ja schon zur Verzweiflung bringen“, wirft Hannes ein. Auch die drei Buben mischen sich nun ein und bestürmen Mäu mit weiteren Fragen. Nachdem sie noch eine ganze Weile miteinander debattiert haben und die Schausteller sich ein umfassendes Bild von Mäus Situation machen konnten, ist Lisbeth, die in der Familie das Sagen hat, schließlich zu einer Entscheidung gekommen, die sie Mäu, unumwunden und knapp, wie es ihre Art ist, auch sogleich mitteilt:
„Es war gut, Maria, dass du uns die Wahrheit gesagt hast. Ich für meinen Teil habe keine Probleme damit, wenn du bis Leipzig bei uns bleibst.“
Nachdem auch die anderen Familienmitglieder ihre Zustimmung geäußert haben, einigt man sich schließlich darauf, unter verstärkter Vorsicht gemeinsam weiterzureisen und im Falle von Mäus Festnahme werde man eben behaupten, von allem nichts gewusst zu haben. Gerührt und froh darüber, dass die Schausteller zu ihr stehen, umarmt Mäu die frühere Bäuerin herzlich und bedankt sich auch bei allen anderen für ihre Großmütigkeit.
„Weiter geht’s, ihr Lieben! Und von zwei so dummen Tölpeln, wie diesen Bütteln eben, lassen wir uns noch lange nicht unterkriegen!“, animiert Lisbeth die anderen und erntet Zustimmung. Mäu ist es schon mehrfach aufgefallen, wie aufrecht und frohgemut die kleine, rundliche Frau durchs Leben geht und es dabei immer wieder versteht, ihre Umgebung mitzureißen. Innerhalb der Schaustellerfamilie ist sie zweifellos die treibende Kraft, von ihrem Mann und den drei Söhnen respektiert und geliebt.
Das „liechen um den Steinhaufen“ kann nur demjenigen gelingen, der auch gute, verlässliche Freunde hat. Insofern ist es für Mäu ein großes Glück, Menschen wie die Schausteller getroffen zu haben. Um der Gefahr zu entgehen, benötigt der Gesuchte außerdem stets einen sicheren Unterschlupf mit zuverlässigen Helfern, will er nicht total in der Luft hängen. Genauso, wie überall unter den Sesshaften die Feinde der Vaganten lauern, gibt es auch genügend Leute, die sich mit den Fahrenden verbünden. Ohne sie wäre die Kaste der Vogelfreien schon längst ausgestorben. Es sind besonders die armen Leute in den Städten und auf dem Land, kleine Bauern oder Tagelöhner, die auf ihrer Seite sind. Nicht selten kommt es vor, dass Dorfbewohner die Fahndung der Gesetzesdiener nach bestimmten Vaganten sabotieren und diesen Schutz und Herberge gewähren. Auch innerhalb der niederen Beamtenschaft finden sich zuweilen Sympathisanten, die gesuchte Fahrende entwischen lassen oder über geplante Razzien informieren. Für die Betroffenen gilt es als Ehrensache, sich bei denjenigen, die ihnen geholfen haben, entsprechend zu revanchieren.
Dieses geheime Netz basiert auf der Grundlage der Gegenseitigkeit, die selbstverständlich auch von Eigennutz bestimmt wird.
Der Hehler, der die Sore abbunkert und für eine gute „Kawure“ * sorgt, denkt dabei natürlich auch an seinen eigenen Gewinn. Der Wirt, der einem Verfolgten Unterkunft gewährt und ihm neue Kleidung zur Unkenntlichmachung zur Verfügung stellt, lässt sich seine Dienste gut bezahlen.
Auch die Wirtin des nahe bei Hünfeld gelegenen Gasthauses „Zum alten Laternchen“, die Fahrende beherbergt, während ihr Mann als Landgänger unterwegs ist, verdient sich dadurch ein Zubrot. Seitdem die Schausteller wissen, dass nach Mäu gefahndet wird, sind sie peinlichst darauf bedacht, in Bezug auf die Auswahl ihrer Übernachtungsquartiere keine Fehler zu machen, und die Herberge bei Hünfeld, in der sie im vergangenen Jahr schon einmal übernachtet haben, erscheint ihnen als
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