Die Siedler von Catan.
hielt ihn Osmund hin. »Nimm eine Rune in die linke Hand, schau sie nicht an«, sagte sie.
Osmund musste den linken Unterarm mit der Rechten führen, um die Hand in das Säckchen zu stecken, und lachte leise über seinen Mangel an Geschicklichkeit. Es war ein heiteres, unbeschwertes Lachen, wie man es nur höchst selten von ihm hörte. Dann endlich verschwand die knochige Hand im Beutel und kam als Faust wieder heraus.
Reihum zogen sie alle eine Rune, Brigitta als Letzte, und sie zog zweimal, weil die neunte Position ja unbesetzt geblieben war. Dann legte sie den Beutel sorgsam beiseite, bildete mit den Händen eine Schale und hieß die im Kreis Sitzenden ihre Runen hineinlegen. Als sie alle neun hielt, schloss sie die Hände darum und ließ die Runen wieder klimpern, aber dieses Mal schneller, es klang dringlicher als zuvor. Dann öffnete sie die Hände, spreizte alle Finger ab und ließ die Runen auf die braune Decke jenseits der Glutschale fallen. Sie spritzten auseinander wie Wassertropfen. Candamirs Blick war eigentümlich langsam geworden, er brauchte ewig, so kam es ihm vor, um alle neun Runen wiederzufinden.
Keine sah aus wie die andere. Sie waren in längliche, flache Holzstücke unterschiedlichster Sorten geschnitzt, manche auch in Kiesel geritzt. Und alle lagen mit der Rune nach oben. Das war höchst ungewöhnlich, so viel wusste gar Candamir.
»Die Götter haben uns offenbar viel zu sagen«, murmelte Brigitta. Lange starrte sie auf die neun Runen vor sich, betrachtete die Winkel und Abstände, in welchen sie zueinander lagen.
Die Positionen richtig zu deuten war ebenso wichtig wie die Runen selbst, denn sie bestimmten die Reihenfolge und das Verhältnis der Runen zueinander.
Schließlich wies Brigitta auf die Rune, die einzeln und der Feuerschale am nächsten lag. Sie bestand aus einem senkrechten Strich mit einem kleinen Schrägstrich durch die Mitte, eingeritzt in einen schiefergrauen, glatten Kiesel. »Nauthiz«, sagte die alte Frau mit fester Stimme. »Sie ist der Anfang und steht für das, was ist.« In der Reihenfolge, die sie erkannt hatte, zeigte sie auf die anderen. »Berkano, Raidho, Hagalaz, Thurisaz, Kenaz, Ingwaz, Jera und Ehwaz.« Dann begann sie von vorn: »Nauthiz, Berkano, Raidho, Hagalaz, Thurisaz, Kenaz, Ingwaz, Jera, Ehwaz.« Wieder und wieder zählte sie die Namen auf, als sei es eine Beschwörungsformel. Bei jedem Namen wanderte ihr Finger weiter zu einer neuen Rune, und sieben Augenpaare folgten ihr. Es war inzwischen so heiß, dass es Candamir vorkam, als atme er flüssiges Feuer. Schweiß rann ihm über Brust und Rücken, nur sein Gesicht erschien ihm kühl, der Kopf klarer als sonst. Gebannt lauschte er Brigittas gleichförmiger Stimme, folgte ihrem gekrümmten Finger. Und dann hörte er eine zweite Stimme, die die ihre überlagerte, immer das Gleiche sagte wie sie, aber immer einen Hauch schneller. Sie war sanft und wundersam melodisch – die Stimme einer jungen Frau oder eines Knaben. Was es war, vermochte er nicht zu sagen.
»Nauthiz, Berkano, Raidho, Hagalaz, Thurisaz, Kenaz, Ingwaz, Jera, Ehwaz«, wiederholten beide Stimmen, und dann murmelten Osmund und Jared wie aus einem Munde: »Ich höre die Stimme des Raben.«
»Gut«, sagten Brigitta und die zweite Stimme zufrieden und setzten ihre Litanei der Runennamen fort.
Rabe?, fragte Candamir sich verwirrt. Wie kann dies die Stimme eines Raben sein, so rein und schön?
Argwöhnisch beäugte er das schwarze, geflügelte Ungeheuer, das immer noch auf der Schulter der Alten hockte. Der Schnabel war geschlossen, doch die dunklen Knopfaugen erwiderten seinen Blick unverwandt, schienen ihn in seiner Unwissenheit zu verhöhnen. Bei der nächsten Wiederholung war die unirdische Stimme in seinem Kopf viel lauter, aufdringlich gar, und er spürte, wie es hinter seinen Schläfen zu hämmern begann.
»Auch ich höre die Stimme des Raben«, stieß er hastig hervor, und augenblicklich ließ das Hämmern nach. Na also, schien der leicht belustigte Blick des Vogels zu sagen, warum nicht gleich so? Candamir verspürte einen merkwürdigen Schwindel in seinen Kopf kriechen, wie er ihn sonst nur kannte, wenn er heillos betrunken war. Aber heute betäubte der Schwindel ihm nicht die Sinne; im Gegenteil, alle fünf schienen geschärft. Er roch das Feuer und den Rauch, spürte die Hitze und den Schweiß auf der Haut, sah eine Vielzahl flimmernder Bilder im zuckenden Feuerschein, schmeckte den fremdartigen, erdigen Trank immer noch auf der
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