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Die Signatur des Mörders - Roman

Titel: Die Signatur des Mörders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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beschrieb sie eine ausladende Bewegung. »Die Kaiserstraße? Das Bahnhofsviertel? Gehören die zu Ihrem Kaiserreich? Dealer, Fixer, Nutten sind Ihr Volk?«
    »Myriam«, warnte Henri.
    Doch sie konnte nicht aufhören: »Hat sich Ihr Leben gelohnt? Hat es sich gelohnt, diesen Staat zu hassen? War es das wert? Auf der Straße zu leben? Abhängig zu sein von der Toleranz, der Mildtätigkeit, dem Erbarmen anderer?«
    »Ja«, Alex wachte plötzlich auf. So klar war er vermutlich seit Monaten, seit Jahren nicht mehr gewesen. Der Grauschleier seiner Augen lichtete sich erneut. Es klarte auf in seinem Blick. »Ich habe gekämpft«, erklärte er heiser, »für die Freiheit. Für die Gerechtigkeit! Ich bin frei im Gegensatz zu Ihnen.« Seine Hand stieß gegen die Tasse. »Sie hängen im System fest, Mylady. Gefangen in einem Spinnennetz. Wenn es Ihnen nicht gelingt, sich zu befreien, werden Sie von diesen klebrigen Spinnweben eingewickelt. Immer fester, bis Sie keine Luft mehr bekommen, bis die Spinnen Ihren Mund verkleistern, Sie können nicht mehr sprechen, nicht mehr essen, nicht mehr atmen. Sie werden ersticken an Ihrer Bürgerlichkeit.«
    »Was wissen Sie über mein Leben?«, fragte Myriam und dachte gleichzeitig an das Spinnennetz, an den wiederkehrenden Traum. Ron grinste, während Henri die Hand hob, als wollte er sie beide köpfen lassen. »Nichts wissen Sie! Gott, Leute wie Sie kotzen mich an. In den Sand gesetzt haben Sie Ihr Leben! Verkackt, verstehen Sie! Und es geht hier nicht um Ihre beschissene Freiheit, die interessiert mich einen Dreck, ebenso wie irgendwelche roten Zellen im vorigen Jahrhundert. Mich interessiert ein totes Mädchen. Eine junge, schöne Frau, die verblutet ist. Der das Blut aus zig Wunden floss, dagegen war Jesus am Kreuz nichts. Deren Haut in Fetzen vom Körper hing. Okay, wenn Ihre Terroristen für ihre Ideale sterben wollten, dann klatsche ich ihnen meinetwegen Beifall für ihr Heldentum, aber das Mädchen ist nicht für ein Ziel gestorben. Ihr Tod ist sinnlos, sinnlos, verstehen Sie? So sinnlos wie Ihr Kampf gegen Ihr eigenes Leben.«
    Für einen Moment herrschte Stille. Myriam holte tief Luft. Wut, Zorn, Raserei waren Gefühle, die in ihrer Wirkung mit einem Orgasmus vergleichbar waren. Danach fühlte man sich ebenso entspannt, müde und leer. Als hätte sie die Spinnweben, von denen er gesprochen hatte, mit einer Bewegung zerrissen.
    »Ich mochte sie«, erklärte Alex plötzlich ruhig. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich von einer Minute zur anderen von Ablehnung in tiefe Traurigkeit. Myriam glaubte tatsächlich, Tränen in seinen Augen zu erkennen, doch vermutlich täuschte sie sich.
    »Echt freundlich. Und großzügig. Vor allem großzügig. Immer hat sie mir Geld gegeben, wenn ich sie angebettelt habe. Obwohl sie selbst nichts hatte. Sie war’ne Mutter Theresa, eine Königin der Herzen.« Er machte eine kurze Pause, nippte an der Espressotasse, in der lediglich noch Zuckerreste waren, bis er schließlich kaum verständlich hinzufügte: »Sie war eine der seltenen Ausnahmen, ein Silberstreif am Horizont dieser beschissenen Welt, eine Lichtgestalt in diesem abgefuckten Viertel, die es nicht verdient hatte zu sterben.«
    Einen Moment lang sagte keiner etwas. Es herrschte eine Stille, in der sich alle einig schienen. Nichts gab es, was hinzugefügt werden konnte. Niemand widersprach. Ein kurzes Schweigen, weil jeder den anderen respektierte, bis Alex murmelte: »Und wenn ihr Bullen mir jetzt’nen Zehner leiht, dann geb ich euch die Adresse von Jess. Die hat sie nämlich wirklich gekannt.« Er erhob sich schwerfällig und schaute Myriam an. »Wenn ein Mensch einen anderen überhaupt kennen kann. Sie verstehen, was ich meine.«
    Dieser Alex war unrasiert, seine Haare waren fett, ungekämmt, von einem gräulichen Gelb, das man sonst nur auf schimmeligem Käse findet. Er roch wie Socken, die seit Wochen getragen wurden, aber dennoch mochte Myriam ihn. Aus dem einzigen Grund, weil er garantiert nicht seinen Anwalt rufen würde, nur weil sie ihn beschimpfte. In einer Welt der Beamten und Juristen, einer Welt, die von Abteilungsleitern wie Hillmer bestimmt wurde, erschien ihr dieser Alex als wirklicher Lichtblick, als Gesprächspartner, der besser, befreiender auf sie wirkte als jeder Therapeut.
    Daher nickte Myriam und fühlte sich für einen Moment befreit von dem Spinnennetz aus Skrupeln, Zwängen und Ängsten, oder was sonst noch ihren Weg zu sich selbst blockierte.

9
    Myriam eilte die

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